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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Blick dabei zuschaute, wie die übrigen Anwesenden in jenem Raum in der Furtwangener Sägemühle – insgesamt vier oder fünf – winzige Kettenglieder zusammenfügten.
    Noch aber hatte Henry Brandling keine Ahnung, welche Bewegung die Kette beim Schwan auslösen sollte.
    Catherine dagegen hatte die Kette berührt, hatte daran gezogen und bewirkt, dass sich im vierten Stock des Swinburne-Annexes das Skelett des Schwanenhalses bewegte.
    Im Kaminlicht kam ihr Henry Brandlings Blick unruhig und verängstigt vor. Er hatte bereits ein Kind verloren. Was das für Minuten waren, jede einzelne eine Qual.
    Die Deutschen hielten ausnahmslos ein Montierwerkzeug in der Hand, kaum mehr als eine Haltehilfe für die Rille, in die winzige Kettenglieder eingefügt wurden, damit die Nieten angebracht und festgehämmert werden konnten. Der Junge war der schnellste, am erstaunlichsten aber war Sumper mit seinen riesigen Pranken. Er arbeitete insgeheim mit dem Kind um die Wette.
    Wie so oft blieb Henry nichts weiter übrig, als einfach nur zuzusehen, was er jedoch mit einer grimmigen Intensität tat, die so gar keinen Bezug zur eigentlichen Arbeit am Tisch zu haben schien. Er saß zusammengekrümmt auf einem dreibeinigen Hocker am verlöschenden Feuer.
    Hatte Henry Brandling Catherine vorhergeahnt?
    Auf jeden Fall hatte er geahnt, dass ihn jemand durchs Wurmloch beobachten würde, so viel war klar. Für diese Person hatte er geschrieben. Und er dachte ohne Unterlass an jenen Moment, in dem die Kette einen Schwan beleben würde, den er störrisch weiterhin ›meine Ente‹ nannte.
    Er lügt, dachte ich, aber mich belügt er nicht.
    Autoreifen zischten über die Kennington Road. Die einst von Henry Brandlings Feder geschriebenen, vergilbten Buchstabenreihen ließen an wogenden Unterwasserfarn denken. Wie längst vermutet, schmolzen Märchensammler und Silberschmied nun zu einer Person zusammen. Wenn Henry aber mir nichts vorlog, wem log er dann etwas vor? Gott? Ich kehrte nach Furtwangen zurück und schlug die nächste Seite auf.
    Sumper spuckte ins Feuer, der Rotz zischte. »Hören Sie mir aufmerksam zu«, sagte er zum Märchensammler. »Es liegt in der Natur der Wissenschaft«, sagte er, »dass die Menschen das, was wahr ist, stets inakzeptabel finden.«
    Und ich, Catherine, konnte ihm natürlich nur zustimmen. Wer von uns hätte das nicht getan?
    »Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen, die wahr ist«, erbot sich der Märchensammler.
    Das Kind blickte Sumper bittend an, wobei seine kleinen, warzigen Finger nicht einen Moment innehielten. Wie ein pickender Vogel griff er unablässig in die Schüssel mit Kettengliedern.
    Der Märchensammler schlug leicht mit seinem feinen schwarzen Hammer zu. »Genau am 15 . April 1614 wurde im alten Teil von Salzwedel unweit der Straße, die zum St. Annenkloster führte, ein Mord begangen.«
    Carl kniff die Augen zusammen.
    Der Märchensammler kannte keine Gnade. Er beschrieb, wie man die Hände des Mörders abschlug und wie er mit rotglühender Zange gefoltert, zum Richtplatz geschleppt und umgekehrt aufs Rad geflochten wurde. Es war ›wundersam‹ und schrecklich zugleich, so der Märchensammler, dass die Hand, die jene schreckliche Tat beging, noch drei Tage lang am Rad blutete.
    »Warum sitze ich hier fest?«, rief Sumper, der den Kummer des Kindes nicht zu bemerken schien. »Wie konnte es nur geschehen, dass ich mir dieses einfältige Geplapper anhören muss?«
    Dadurch gewann er Catherines Mitgefühl. Er hatte bessere Gesprächspartner verdient. Auf der Arbeit führte sie jeden Tag interessantere Dialoge mit ihm.
    Ich war da, nahe bei ihm, bei den vieren, die eine Kette zusammensetzten, vier Ketten vielmehr, Ketten für den Antrieb. Ich sah sie in erstaunlichem Tempo länger werden, klick, klack, klopf, so rasch. Es folgte eine lange Phase, in der kein Wort fiel, und die spitzen Sätze, randvoll mit schrecklich besorgtem Gefühl, zogen sich über die Seiten. Sumper war es, der sich schließlich an das ›erbärmliche kleine Wiesel‹ wandte.
    »Ihr habt von Sir Albert Cruickshank gehört?«
    Nein, hatte Catherine nicht.
    Sumper verließ den Tisch. Heimlich verglich der engelsgleiche Junge die Länge der beiden Ketten, seine und die von Sumper. Er flüsterte seiner Mutter etwas zu. Die Mutter nahm Sumpers Kette aus der Hand ihres himmlischen Sohnes und legte sie zurück auf den Platz des Uhrmachers, gleich neben dessen Montierwerkzeug. Kaum getan, kehrte er auch schon mit einem ziemlich

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