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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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zerfledderten Buch in der Hand zurück und verpasste Carl eine Kopfnuss. Beide brachen in Gelächter aus.
    Catherine las den Titel:
Mysterium Tremendum
.
    »Der Verfasser ist Sir Albert Cruickshank«, erzählte Sumper dem Märchensammler. »Er hat den Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge inne und ist Mitglied der Royal Society sowie Erfinder der Cruickshank-Maschine.«
    Der Märchensammler gab vor, gelangweilt zu seufzen, das Kind aber blickte erwartungsvoll aufs Buch, dessen lateinischer Goldblatttitel im Kaminlicht glühte. Es handelte sich gewiss, so Henrys Vermutung, um ein Gebet- oder Liederbuch.
    »Monsieur Arnaud«, sagte Herr Sumper, »das
Mysterium Tremendum
wurde an der Universität zu Cambridge geschrieben, doch seien Sie unbesorgt, falls Sie von dieser Institution noch nie gehört haben. Sie existiert außerhalb der Grenzen Ihrer winzigen Welt.«
    »›Dann bat ich meinen Wegführer‹«, las Sumper aus dem Werk vor, »›mir einen Blick auf jene anderen, intellektuell höher entwickelten Wesen zu gestatten, auf ihre Denkweisen und ihre Art, sich zu vergnügen. Diese Geschöpfe sind allem weit überlegen, was die menschliche Phantasie sich auch nur vorzustellen vermag.‹«
    »›Ich befand mich wieder in Bewegung‹« (Herr Sumper stand auf) »›und sah unter mir Seen und Meere, auf deren Wassern ich lebende Wesen ausmachte, die ich kaum angemessen zu beschreiben vermag. Ihre Fortbewegungsart glich der von Seepferdchen. Und sie eilten von Ort zu Ort mittels sechs extrem dünnen Membranen, die sie wie Flügel einzusetzen wussten. Ich sah zahllose, gewundene Röhren, die am ehesten noch Elefantenrüsseln glichen und jenen Körperteil ausmachten, den ich für den oberen hielt. In diesem Moment wandelte sich mein Erstaunen in Abscheu, solch eigenartigen Charakters waren ihre Organe.‹«
    Oje, dachte Catherine, oje, oje, oje. Ihr war, als hätte sie den Zeugen Jehowas die Tür geöffnet. Der Junge aber fühlte sich ganz daheim. Sein roter Mund stand offen. Im Haar spiegelte sich das Kerzenlicht, als er nach der Hand der Mutter griff mit seinen langen, dünnen Fingern, ›blass, geschmeidig, biegsam wie ein Vogelhals‹.
    »Sie«, Sumper wies auf Henry Brandling, »befinden sich im selben Zustand wie eine Fliege, deren mikroskopische Augen so verwandelt wurden, dass sie denen eines Menschen gleichen.«
    Der Junge warf Henry Brandling ein »so schönes wie mitleidsvolles Lächeln zu«, um dann lautlos die Worte mitzusprechen, die Sumper vorlas: »› SIE SIND GÄNZLICH UNFÄHIG , DAS GESEHENE MIT DEM ZU VEREINBAREN , WAS DAS LEBEN SIE GELEHRT HAT .‹«
    Catherine überlief ein Schauder. Was sollte sie davon halten? War der große Mechaniker auch ein Mystiker gewesen?
    Sumper las: »›Jenen Wesen, die sich nun vor Euch befinden und die Euch ebenso unvollkommen wie niedrige Zoophyten erscheinen, eignet eine Sphäre der Sensibilität und des Intellekts, die jener der Bewohner dieser Erde weit überlegen ist.‹«
    Damals kam mir nicht einen Moment lang der Gedanke, dies könnte tatsächlich ein Mann der Wissenschaften geschrieben haben. Ich wusste auch nicht, wie viel Cruickshank dem Chemiker Humphry Davy und dessen Buch
Consolations in Travel
verdankte. Ich musste überhaupt nicht an die Royal Society denken, eher schon an C. S. Lewis auf einem LSD -Trip. Und das von Sumper, dessen Werk ich vertraute und das ich während meiner Arbeit von früh bis spät bewunderte.
    »Sie haben keine Ahnung, wer Sie sind«, sagte Sumper zu Brandling. »Sie haben ja keine Ahnung, was hier passieren wird, in ebendiesem Raum«, sagte er, »Sie wurden zum Boten erwählt, und Sie werden Ihre Rolle spielen, ohne auch nur zu wissen, was Sie getan haben, auch wenn Sie vielleicht glauben, der tapfere Held in einer Geschichte gewesen zu sein, die Sie nie zu lesen bekommen.«
    Henry berichtete von der »lodernden Höllenglut des Irrsinns« und von seiner Angst, die ihm »das Blut gefrieren und das Haar zu Berge stehen ließ«.
    Catherine las noch einmal: »›Jenen Wesen, die sich nun vor Euch befinden und die Euch ebenso unvollkommen wie niedrige Zoophyten erscheinen, eignet eine Sphäre der Sensibilität und des Intellekts, die jener der Bewohner dieser Erde weit überlegen ist.‹«
    Catherine wollte KayKay. Mich gruselte.

3
    Es war noch nicht einmal neun Uhr, doch Amanda Snyde saß bereits an ihrem korrekten Arbeitsplatz und säuberte die Ringe, ganz wie ich es ihr aufgetragen hatte.
    Da war unser ›Objekt‹ –

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