Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
Vom Netzwerk:
schwärmten die Männer zur Tür, nur ein paar unsichere Kollegen blieben zurück.
    »Ich bin nicht Ihr Meister«, umschmeichelte sie Cruickshank, »aber ich bin der Programmierer. Wenn Sie jetzt gehen, werden Sie nie erfahren, dass ich die Maschine programmiert habe, nach einundfünfzig Additionen ein Wunder zu vollbringen – nach einundfünfzig Additionen soll sie das Gesetz der Reihe durchbrechen.«
    Das Wort ›Wunder‹ löste eine heftige, körperliche Reaktion bei einem der verbliebenen Arbeiter aus. Er spuckte auf den Boden, schüttelte die Fäuste und strebte der Tür zu.
    »Aber für mich, Jim, ist das keine Verletzung der Gesetzmäßigkeit. Es ist vielmehr die Manifestation eines höheren Gesetzes, das mir bekannt ist, Fred, Ihnen aber nicht.«
    Doch es war hoffnungslos. Er konnte sie nicht halten.
    »Sie denken, 102 plus 2 ergibt 104 , doch ich habe ein neues Gesetz geschrieben, demzufolge 102 plus 2 in der Summe 171 ergibt. Als Resultat«, erklärte Cruickshank seinem einzigen verbliebenen Zuhörer, »meiner
Ihre Einsicht übersteigenden
Entscheidung bewegt sich ein bestimmter Hebel, und Sie haben gesehen, wie 2 plus 102 die Summe 171 ergab. Vergleichbares in der Natur nennen wir ein Wunder, und mich, der ich es vorausgesagt habe, mich würde man einen Propheten nennen.«
    So bestätigte das Genie, dass Furtwangens Gottesbilder kümmerlich und kläglich waren, dass es Mechanismen gab, die sich menschlichem Wissen entzogen, dass es vor unseren Augen, doch außerhalb unseres Horizontes Systeme geben mochte, die wir nicht kennenlernen konnten, Welten, die wir gesehen und wieder vergessen hatten. Dort, in der Bowling Green Lane, erinnerte sich Sumper an Ideen, die er als Kind gehabt hatte, daran, wie er sich mit aller Kraft gewünscht hatte, er könne wissen, wie es war, eine Libelle in all ihren drei Stadien zu sein, als Larve in der Erde, als im Wasser lebendes Tier und als fliegendes Insekt. Erinnerte sich die Libelle im letzten Stadium ans erste? Könnte er selbst letztlich auch eine Libelle sein, und wenn ja, wie würde er dann die Welt verstehen?
»Mysterium Tremendum«
, erzählte er. Ehrfurcht und Wunder des Universums. Nicht eine Sekunde zweifelte er daran, dass Cruickshank ein Genie war, vielleicht gar ein höheres Wesen von völlig anderer Natur. Warum denn nicht? Wir glauben ja auch daran, dass Jesus über Wasser wandelte.
    »Wir sind arrogant in unserer Ignoranz«, erklärte in Furtwangen der arrogante Uhrmacher mit den furchteinflößenden Augen, die im Licht des Kaminfeuers blitzten. »Falls Tiere über Sinne verfügen, die sich grundlegend von unseren unterscheiden, woher sollten wir das wissen? Diese von uns verachteten Kreaturen haben womöglich Informationsquellen, von deren Vorhandensein wir nicht einmal träumen. Sie könnten eine uns körperlich wie intellektuell weit überlegene Existenz führen, warum denn nicht, mein Engländer, warum nicht? In London war ich achtundzwanzig Jahre alt«, fuhr Sumper fort, »und ich war trunken von derlei Ideen, von denen ich so manche insgeheim wie Kiesel in der Hosentasche seit meiner Kindheit mit mir herumgetragen hatte. Als das Genie meinem Blick begegnete, sah er, dass ich ihm zu dienen wünschte, und kaum hatte sich die Aufregung in der Fabrik gelegt, bat er mich, ihn zum Westrand des Soho Square zu begleiten, wo er ein Haus besaß.«

3
    Ich war Percys Motor, sein Puls, seine voltaische Säule. Mit der Tinte meiner Feder nährte ich ihn, beschrieb den Bau eines Automaten, den ich nie gesehen hatte. So vergingen die Tage. Meine Abende dagegen verliefen ganz und gar unmöglich, denn nichts konnte Sumper am Erzählen hindern. Carl und dessen Mutter flüchteten sich ins Bett, dann war es für mich umso schlimmer. Ich wurde verschluckt, begraben. Die Schneewehen türmten sich bis zu den Fensterbänken auf.
    Sumper behauptete, ›neu geboren‹ worden zu sein, als er durch Cruickshanks Haustür trat. Hier, am Soho Square, sollte er Cruickshanks Apparat bald ›vollständig begreifen‹ lernen. Das behauptete er und funkelte mich an. Er hatte Beweise. Zumindest habe er Prinz Albert einen ›sehr praktischen und nicht sonderlich theoretischen Bericht‹ über diese Erfindung liefern können.
    Seine großen Pferdeaugen verlangten eine Antwort. Was sollte ich sagen? Das war nicht nur gelogen, das lag sogar jenseits alles Möglichen. Herr von Sachsen-Coburg und Gotha lebte, wie mein alter Herr nur allzu gut gewusst hatte, höchst zurückgezogen und war

Weitere Kostenlose Bücher