Chemie der Tränen
überaus auf seine Einsamkeit bedacht. Einen Mann wie Sumper hätte er nicht einmal wahrgenommen.
Ja, das klinge recht unwahrscheinlich, gab der Uhrmacher schließlich zu, doch zeichnete es sich durch ›genau dasselbe Maß an Unwahrscheinlichkeit‹ aus wie die Tatsache, dass sich der Sohn eines Sägewerkmüllers in Gesellschaft des Ehrenwerten Albert Cruickshank befand. »Nicht, Henry? Nicht?«
Eine
tiefe Ordnung
prägte die Welt, die er am oberen Ende der Cruickshank’schen Treppe vorfand. Der Verehrer erzählte weiter, redete Unsinn wie ein frisch zu den Baptisten bekehrter Eiferer. Und ich saß gefangen in Deutschland und sah, wie er sich dem Kachelofen näherte und dabei den Tisch umrundete, wobei mir bald deutlich wurde, dass sich das, was er so aufgeregt eine ›tiefe Ordnung‹ nannte, dem Versuch eines ›wahren Gläubigen‹ verdankte, dem Chaos Bedeutung zu verleihen – Kinderspielzeug, orientalische Figürchen, liegengelassene Messinginstrumente, Marmorbruch und eine riesige Bibliothek, in der vor nahezu jedem Buch irgendeine Kuriosität oder ein Gegenstand lag, die allesamt die Neugier auf sich zogen.
Im Mittelpunkt des Sonnensystems dieses alten Mannes stand angeblich eine große Vitrine, in der er silberne Automaten aufbewahrte, zwei Damen, die Cruickshank, wie er bereitwillig gestand, seit seiner Kindheit liebte. Sie waren beide nackt, lebendig und doch nicht lebendig, aus blitzendem Silber, gut dreißig Zentimeter groß.
Cruickshank zog die silbernen Damen auf.
»Erstaunlich«, sagte ich.
»Sie begreifen nicht.«
Was ich offenbar nicht begriff war die Tatsache, dass es sich bei Albert Cruickshank um ein Genie handelte. Und dieses Genie wusste, dass ihn Sumper besser als jeder andere Mensch auf Erden verstand. Was umso bemerkenswerter war, da es sich bei ihm um einen ungebildeten Müllersburschen handelte.
Die silberne Dame musterte den jungen Sumper durch ihr Monokel – sah sie den enormen, tölpeligen Leib in seiner groben, muffigen Hülle, die riesigen Hände, die sich auf ein lautlos rasendes Herz legten? Als sie zum Ende kam, kehrte sie zu ihrer Gespielin zurück. Die zweite Dame war eine Tänzerin. Auf ihrer Hand hockte ein kleiner silberner Vogel. Während seine Herrin mit den Hüften wackelte, wippte er mit dem Schwanz und flatterte mit den Flügeln.
Ich sagte Sumper, er könne sich außerordentlich glücklich schätzen; manch einer, sagte ich, lebte ein Leben lang in London, ohne dergleichen zu sehen.
Ich weiß nicht, warum ich das sagte. Es stimmte nicht.
Er wurde ganz aufgeregt und berichtete, wie er Cruickshank eine schmale Treppe hinab in eine Werkstatt gefolgt sei, die wie ein Baumpilz am eigentlichen Haus hing.
Das innerste Heiligtum war kalt, doch angefüllt mit wundersamsten Drehbänken, Bohrern und Pressen und – auf der einen Seite – einem großen Zeichentisch, an dem er die Pläne anfertigte, die er in die Bowling Green Lane brachte.
Cruickshank versuchte, ihn vom Fleck weg einzustellen.
Doch Sumper hielt sich für unwürdig. Er war kein Schraubstock- und Drehbankmann, kannte sich mit Mathematik nicht aus, schon gar nicht mit Integralen.
»Aber Sie haben gelacht«, beharrte Cruickshank. »
Quod erat demonstrandum.
Sie sind mein Mann.«
»Ich habe nur so getan, als ob ich etwas davon verstünde; eigentlich habe ich nur gelächelt.«
»Eben.«
Jeder aber hätte wissen können, erzählte Sumper, dass ein kluger Mann nicht ohne guten Grund 2 + 2 addiert. 2 + 2 war vorhersagbar. Er hatte gelächelt, weil er auf die Überraschung wartete. Natürlich wusste er, dass 171 ›falsch‹ war, auch wenn er zugleich annahm, dass die Zahl richtig sein müsse. Er wusste nur: Wer die Programme schreibt, der ist ein Gott.
»Einhundert Prozent korrekt«, erwiderte Cruickshank. »Ich will Folgendes von Ihnen: Schaffen Sie die hölzernen Gussformen, nach denen dann die Bronzenocken der Apparatur gegossen werden.«
»Aber dafür brauchen Sie mich nicht. Das kann jeder gemeine Kuckucksuhrmacher.«
»Dann gönnen Sie sich einen Drink, denn ich habe meinen Mann gefunden.«
Sumper lächelte. Das Genie bot ihm einen Penny für seine Gedanken.
»Ihnen werde ich sie verraten, Herr Brandling«, sagte Sumper. »Ihnen werde ich sagen, was ich ihm nie sagen konnte. Ich dachte, ich sei in der wahren Heimat meiner Seele angelangt.«
Wer hätte ihn da nicht beneidet?
4
Mein Leben lang hat man mich für einen Schwachkopf gehalten, der unter anderem nicht verstand, warum seine Frau ein
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