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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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anderes Zimmer bezogen hatte.
    Folglich Sumper: Henry, Sie verstehen nicht.
    Zugleich war er fest entschlossen, mich auf die Probe zu stellen.
    »Die Sache ist die, Herr Brandling, ich hatte friedlich in meinem Bett geschlafen.«
    Kein Mucks von mir.
    »Ich könnte wetten, Sie haben keine Vorstellung davon, was als Nächstes passierte.«
    »Nein, eigentlich nicht, altes Haus.«
    »Ich wurde ermordet.«
    Was ganz offensichtlich nicht stimmte.
    »Nein, nein, ein weinender Mann war auf mich herabgefallen«, erklärte er, »wie ein Äffchen vom Dach. Er kreischte und schlug nach mir.«
    Es war mitten in der Nacht gewesen, als sich das höhere Wesen, nun im Nachtgewand, heulend auf Sumper geworfen und nach dem vollen Gesicht des schlafenden Mannes geschlagen hatte. Sumpers erste Reaktion fiel typischerweise heftig aus, die zweite dagegen gänzlich unerwartet – er nahm den alten Mann in die Arme und hielt ihn fest, bis er wieder eingeschlafen war.
    Mein lieber Alter, dachte ich. Die Schrecken älterer Herren in der Nacht.
    Als der Morgen anbrach, hatte sich sein neuer Brotherr wieder zurückgezogen. Sumper kleidete sich an und ging zum Frühstück nach unten. Und da saß Cruickshank, las
The Times
und schien, von einem Kratzer auf der hohen Habichtsnase einmal abgesehen, keinen weiteren Schaden genommen zu haben.
    »Ich bin kein Arzt«, fuhr Sumper fort, was ihn allerdings nicht davon abhielt, eine Hirnlähmung zu diagnostizieren.
    In den kommenden Monaten sollte er zu dem Schluss kommen, dass Cruickshanks Zustand nicht etwas ihm Äußerliches, sondern in gewisser Weise Cruickshank selbst war. Cruickshank war der Schrecken. Er hatte seinen Leib der Gestalt des Schreckens angepasst, die Augen tiefer gelegt, den Mund gestrafft, die stählernen Kiefer zusammengepresst.
    Zudem, folgerte Sumper und verriet dabei ein unattraktives Staunen über die eigene Intelligenz, war das Trauma, das Cruickshank Nacht für Nacht heulend und um sich schlagend ins obere Zimmer führte, ebenjener Schmerz, dem auch die Cruickshank-Maschine entsprang. Die Maschine und der Wahnsinn waren ein und dasselbe, sagte er.
    »Cruickshanks Familie – seine Frau, zwei Mädchen und ein kleiner Junge – sind auf See ertrunken. Sie wissen, was das bedeutet, nicht?«
    Ich fürchte, ich habe gegähnt. Ungewollt. Und ganz gegen meinen Willen erfuhr ich nun auch, dass das Schiffsunglück einzig durch schlechte nautische Karten verschuldet worden war. Der Kapitän hätte auf die Karten wie auf die Bibel geschworen, trotzdem führten sie ihn auf die Klippen.
    Mr Cruickshank war ein Genie, schrie er. Er verlangte eine RATIONALE ERKLÄRUNG für die Tragödie, und er, Cruickshank höchstselbst, hatte die Gezeitentafeln geprüft und festgestellt, dass es in ihnen vor MENSCHLICHEN IRRTÜRMERN nur so wimmelte. Unerträglich war es, dass weder Schicksal, Gott noch Natur seine Familie ausgelöscht hatten und ertrinken ließen, sondern irgendein FEHLER . Hörte ich auch zu? Diese numerischen Irrtümer setzten Cruickshanks armem Verstand zu wie wütende Wespen, und viele Monate lang saß er, noch während der Trauerzeit, mit dem Stift in der Hand am Tisch, um langsam, sorgsam, all die Fehler in ihrer übelerregenden Vielzahl zu korrigieren. Vielleicht hatte er geglaubt, seine mühevolle Arbeit führte dazu, dass die Toten wieder auferstünden, dass bald das Feuer im Herd sich entzünden und es in der Küche nach Yorkshire Pudding duften würde.
    Er informierte ›das Ministerium‹ über die Fehlberechnungen, das daraufhin Errata-Verzeichnisse drucken ließ, die an Marine und Handelsflotte verteilt wurden. Zu seinem Entsetzen aber musste Cruickshank feststellen, dass sich menschliche Fehler aufs Neue so unabwendbar in die Tabellen einschlichen wie Wasser durch ein leckendes Dach dringt – viele Korrekturen waren schlichtweg falsch in die Verzeichnisse übertragen worden. In einhundertvierzig Bänden fand er dreitausendsiebenhundert einzelne Errata-Blätter, die so falsch wie die Fehler waren, die sie angeblich korrigierten. Diese astronomischen Tafeln wurden von Menschen mit Augenschirmen erstellt, die sich solcher Titel wie Rechenbeamter, leitender Rechenbeamter oder Hilfsrechner rühmten. Ihre Handschrift war ein dergestaltes Wunder, dass man glauben mochte, die Texte seien an der Drehbank gefertigt worden, doch ach, die Männer waren einfache, nach Zwiebeln stinkende Schreiberlinge mit Löchern in den Socken und so durch und durch menschlich, dass sie sich in keiner

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