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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Carey
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Amandas aussagekräftige Zeichnungen. Es wäre ziemlich ungewöhnlich für eine Assistentin im ersten Jahr, einen substantiellen Beitrag zu einem Katalog zu leisten, doch auch wenn noch so viele Augenbrauen in die Höhe gezogen werden sollten, besteht kein Zweifel daran, dass Amanda Snyde, die eigentlich noch keine Gelehrte genannt werden konnte, Tag für Tag erstaunlich gute Skizzen angefertigt hatte. Weiß Gott, wie sich die Fragen von Eigentum und Copyright regeln ließen, denn auch wenn viele Skizzen während ihrer Arbeitszeit im Swinburne angefertigt wurden, hat Amanda ja nach fünf Uhr nicht einfach damit aufgehört. Zudem gab es von Seite zu Seite keine klare Unterteilung zwischen ihrer Arbeit als Restauratorin, etwa einer präzisen Wiedergabe des Silberhalses, und eher persönlichen Werken: Sie fertigte eine sehr nachdenklich stimmende Zeichnung von mir bei der Arbeit an, die ich ihr gern abgekauft hätte, wäre mir das nicht zu eitel vorgekommen.
    Meine Assistentin machte aus ihrem Skizzenbuch kein großes Geheimnis, und ich hatte bei drei Gelegenheiten schon ein wenig darin herumgeschnüffelt. Zwei Bilder fand ich hinsichtlich ihrer Geistesverfassung ziemlich vielsagend, was mich nun eigentlich überhaupt nichts anging, nur war ich eben ihr Boss.
    Das Ungewöhnlichste war eine genaue, dreidimensionale Zeichnung der Architektur des morbiden Schiffsrumpfs, dieses grässlichen Sargs, in dem Carls Würfel den Styx überquert hatte. Ich hatte ihr verboten, sich noch länger mit dem Rumpf zu befassen, weshalb es mich ärgerte, als ich sah, dass sie ihn stundenlang gezeichnet haben musste. Die gewölbten Spannten sowie die Verkleidung auf beiden Seiten war wiedergegeben und ebenso sorgfältig die bituminöse Versiegelung angedeutet, ohne darunter die Aushöhlung zu verbergen.
    Natürlich konnte Amanda die Dinge nicht in ihrer einfachen, konkreten Welt belassen. Akribisch hatte sie mit feiner Kreuzschraffur eine ungewöhnliche Anzahl phantastischer Objekte in die hölzerne Verschalung eingearbeitet. Nur warum sollte ich mich darüber ärgern? Wollte ich Phantasie strafbar machen? Die Objekte ließen mich an Vorräte für ein Leben nach dem Tod denken, an jene Krüge mit Korn und Obst, wie man sie aus Pharaonengräbern kennt, doch verriet mir nichts, wie ich sie zu deuten hatte, und auf jeden Fall war sie eine sehr gute Assistentin.
    Ich legte ihr Skizzenbuch gerade auf den Werktisch zurück, als die Tür aufschwang und ich meine Bewegung hoffentlich überzeugend ins Gegenteil umschlagen ließ, soll heißen, ich tat, als nähme ich ihr Buch gerade zur Hand, das ich noch gar nicht abgelegt hatte.
    »Haben Sie«, sagte ich, »schon einmal mit Mr Croft über Ihre Zeichnungen gesprochen?«
    Sie legte ihr Lunchpaket neben das Buch. »Nein, natürlich nicht.« Sie wurde rot, wenn auch nicht unbedingt vor Freude.
    »Könnten Sie eine Reihe davon für mich fotokopieren? Diejenigen, die Ihnen am besten gefallen. Ich denke an Bilder für den Katalog.«
    Ihr Blick war misstrauisch, doch als sie die Zeichnungen durchblätterte, wusste ich, ihre Eitelkeit würde mich retten.
    Ich legte eine Hand auf ihre Finger, damit sie die Zeichnung mit den geheimen Fächern nicht überblätterte. Ihr körperlicher Widerstand war zu spüren.
    »Etwa seine Seele?«, fragte ich und deutete auf die winzigen Waren. »Was ist das, Amanda?«
    »Geheimnisse«, erwiderte sie und blätterte zwei, drei Seiten weiter zu einer hocherotischen, eigenartig detailreichen, recht japanischen Wiedergabe des Schwans.
    Frech zog sie eine Braue hoch, wirkte aber nicht mehr so sicher und wurde leicht rot im Gesicht.
    »Ich mag ihn nicht«, sagte sie.
    »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet.«
    »Der führt was im Schilde, finden Sie nicht?«
    Man sollte meinen, wir hätten ein Stadium erreicht, in dem jemand vernünftigerweise vermuten konnte, dass sie krank sei, doch würde ich dieser Jemand niemals sein wollen.
    »Finden Sie das nicht auch seltsam, das mit dem blauen Würfel?«
    »Nein, nicht seltsam«, erwiderte ich, »eher rührend.« Da sie Carl nicht kannte, konnte sie mit meiner Antwort natürlich nicht viel anfangen.
    »Fragen Sie sich nicht manchmal, Miss Gehrig, was noch im Rumpf versteckt sein könnte?«
    »Staub«, gab ich zurück, »ein Nagel, eine Messingschraube, Sägespäne.«
    Etwas verärgert schüttelte sie den Kopf.
    »Denken Sie denn nie darüber nach?«
    »Nein.«
    »Aber sollten Sie das nicht?«
    »Nein«, sagte ich. »Und nun kommen

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