Chemie der Tränen
Sie. Wir haben einen Termin einzuhalten.«
»Wissen Sie, wir könnten die Wahrscheinlichkeit weiterer blauer Würfel errechnen lassen. Rein mathematisch.«
»Nein, Amanda, das glaube ich nicht.«
»Haben Sie Mathematik studiert?«
»Jetzt reicht’s, Amanda.«
»Tut mir leid, Miss Gehrig, aber ich denke, wären Sie Mathematikerin, würde Ihre Antwort ja lauten. Ich möchte, dass Sie sich mit einem meiner Freunde unterhalten. Er ist so etwas wie ein Mathematikgenie. Darf ich einen Besucherausweis für ihn beantragen, Miss Gehrig? Bitte, es kann doch nicht schaden.«
Ich bin Sozialistin. Es ist mir unangenehm, jemandem zu sagen, dass er seinen Platz offenbar nicht kennt. Amanda kannte ihren Platz nicht, nur ist es mir nicht gelungen, sie darauf hinzuweisen. Ich unterschrieb den Antrag für einen Ausweis und überließ es ihr, den Rest auszufüllen.
Eigenartig war nur, dass ich gleich an Angus denken musste, als sie diesen Freund erwähnte. Weil das jedoch völlig unmöglich war, habe ich ihn nicht weiter in Betracht gezogen. War mein ›nicht wissen wollen‹ zu gewollt? Hoffte ich im Grunde, dass er es war? Ich weiß es nicht, doch als Matthews ältester Sohn mit seinen langen, hüftengen, gebügelten Hosen in meinem Büro auftauchte, war ich total geschockt und hätte doch kein einziges meiner Gefühle genauer benennen können. ›Extreme Panik‹ träfe vielleicht noch am ehesten zu.
Der junge Mann fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut, doch hatte dies vermutlich mit meinem Gesichtsausdruck zu tun oder mit dem kalten Ton, in dem ich mit Amanda redete.
»Wussten Sie, dass Angus’ Vater im Swinburne gearbeitet hat?«, wollte ich wissen.
»Das war nicht hier. Das war am Lowndes Square.«
»Wo haben Sie und Angus sich kennengelernt?«
»Ach, in Suffolk.«
Ich wurde bedrängt, verletzt. Suffolk war unsere Gegend, Matthews, meine, verwebt mit unserem Leben, unserem Atem, Southwold, Walberswick, Dunwich, selbst Norwich, sie waren das geheime Gewebe des verschwiegenen Lebens, das wir allein lebten. Wie konnte sie es wagen, diesen armen schönen Jungen auf ein Territorium zu zerren, von dem sie wusste, das es mit dem Leben seines Vaters befrachtet war?
Zweifellos wirkte ich mürrisch und unzufrieden. Irgendwas hatte sie sehr still werden lassen.
»Wo in Suffolk, Amanda?«
Dabei wollte ich es gar nicht hören, wollte es so wenig hören wie man das Bett sehen will, in dem man vom Geliebten betrogen wurde.
»Ich glaube, Miss Gehrig, es ist nicht fair, dass Sie kontrollieren wollen, wen wir kennen.«
Ich lachte oder keuchte, je nach Perspektive, wollte mit Angus aber keinen Streit. Letzten Endes wollte ich von ihm gemocht werden.
»Natürlich mussten Sie es sein«, sagte ich zu ihm. »Das Mathematikgenie.«
»Ich will mein Bestes versuchen.« Er war nervös, fummelte an seinen handgemalten Knöpfen herum. Ach so, dachte ich, Amanda hat die Knöpfe gemacht.
»Wenn Sie mir bitte den Gegenstand zeigen würden«, sagte er.
Offenbar hatte sie ihm eine Zeichnung gezeigt, denn er sah bei diesen Worten zum Schiffsrumpf hinüber. »Also«, sagte er, »ich weiß, das gegebene Volumen ist in Bereiche einer gewissen Größe unterteilt. Ich weiß außerdem, wie groß die blauen Würfel sind. Und Sie fragen mich, ob ich mathematisch die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins weiterer blauer Würfel berechnen kann?«
»Wer weiß, was noch da ist? Es müssen keine blauen Würfel sein«, sagte Amanda. »Vielleicht ist es etwas völlig Anachronistisches.«
Mich überlief ein eisiger Schauder.
Falls Angus beunruhigt war, ließ er es sich nicht anmerken. Außerdem war sie hübsch genug, um jeden jungen Mann blind und taub werden zu lassen. »Sind die Würfel zufällig angeordnet, ist die Wahrscheinlichkeit, einen zu finden, so groß wie die Größe des Bereichs geteilt durch die Größe des Objekts.«
Sie nickte, als bestätigte er, was sie angenommen hatte.
»Das Unvorhersagbare kann ich allerdings nicht vorhersagen«, fuhr der Junge fort.
»Du hast mir gesagt, das könntest du.«
»Lass mich ein Beispiel für das geben, was du verlangst – auf einem Gehweg findet du eine Papiertüte. Darin ist ein Stift. In der Nähe entdeckst du eine zweite Papiertüte. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie ebenfalls einen Stift enthält? Die Antwort lautet: Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass einer drin sein könnte, mehr nicht.«
»Na gut«, sagte sie, »da ist bestimmt mehr als einer drin. Sonst würde es
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