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Cheng

Cheng

Titel: Cheng Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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erinnerte, die vor dem Grab der Maria Baumann gestanden hatte.
    Mein Gott, was sollte er tun, auf die Bühne hechten (oder sich wälzen), sich auf Grobfeld stürzen, ihn aus der Flugbahn einer Kugel drängen, von der er nicht einmal wußte, ob sie tatsächlich kommen würde, und wenn, woher. War er überhaupt fähig, einen Koloß wie Grobfeld auch nur einen Millimeter zu verrücken? Er mußte an diesen Film denken, diesen Hitchcock-Film, dessen Titel ihm jetzt nicht einfiel, dieser Film mit Grace Kelly oder Doris Day, wo am Ende auch irgend etwas mit einem Konzert, einem Attentat … jetzt fiel es ihm ein, zwar nicht der Titel, aber daß Doris Day, dieser Abgesang Hitchcocks auf die amerikanische Frau, den Mordanschlag auf irgendeinen Staatsmann verhindert, indem sie eines ihrer Lieder singt und dabei kreischt und was auch immer. Er hatte die Sache nur mehr sehr vage im Kopf. Wenn ihm etwas unvergeßlich geblieben war, dann die Peinlichkeit der Doris Day (ihre monströse Hausmütterlichkeit wurde nur noch von der amerikanischen Wirklichkeit übertroffen). Nein, er würde nicht aufstehen und den tatsächlich grandiosen Vortrag Grobfelds unterbrechen (denn wenn irgend etwas einen Wert besaß, dann die Gesangeskunst Grobfelds, die auf unzähligen Platten, CDs und Filmaufnahmen festgehalten war, der Nachwelt also erhalten bleiben würde, während Grobfeld, einmal losgelöst von seiner Gesangeskunst, seiner Musikdarstellung, seiner Sängerdarstellung, nur noch seinem Namen gerecht wurde).
    Bald ruh’ ich wohl und schlafe fest , Herzliebste – gute Nacht !
    Grobfeld schloß die Augen, und einen Moment lang war er nichts als unerschütterliches Pathos, ein wahrhaftiges Genie erst im Moment des Verstummens, erst im Moment der ausschließlichen Pose. Und dieser wunderbare Moment, da der Sänger zum Kunstwerk erstarrt, da der letzte Ton verklingt und der Klavierbegleiter sozusagen über seinen eigenen Oberschenkeln zusammenbricht, dieser kristalline Moment, da das Publikum exakt an der Grenze zwischen dem enervierenden Ertragen von Kunst und dem Bewußtsein steht, es endlich hinter sich zu haben (der Applaus ist tatsächlich ein Ausdruck der Befreiung aus der selbsterwählten Kunsthaft), dieser heilige Moment, da sogar Hörgeräte und Kehlköpfe in Demut verharren, wäre natürlich ein dramaturgisch idealer Augenblick gewesen, um mit Grobfeld Schluß zu machen. Aber der Moment absoluter Reinheit blieb ungeschändet, und Grobfeld beendete ihn, indem er sich mit einer Bewegung von berauschender Langsamkeit seinem in sich zusammengesunkenen Klavierbegleiter zuwandte und ihn mit einem verliebten Blick bedachte, den dieser (obwohl einiges über die Fünfzig) auf eine jungenhafte Art erwiderte, um die ihn jeder Reisebegleiter beneidet hätte. Das war das Zeichen. Und wie als hätte jemand den Strom angedreht, brach ein Applaus los, der stark genug gewesen wäre, die Welt von allem Übel zu befreien, wäre der Applaus nicht selbst ein Teil dieses Übels gewesen. Das Publikum war selbstredend elektrisiert, schließlich galt die dritte Grobfeld-Zugabe stets als Höhepunkt seiner Liederabende (seine vorletzte CD bestand ausschließlich aus Aufnahmen seiner besten dritten Zugaben). Grobfeld servierte nun dem Publikum eine tatsächlich gelungene Rührung – indem er nämlich gar nichts tat, sich nicht verbeugte, nicht die Hände faltete oder sie familiär ausstreckte, nicht zum Balkon und den Logen hinaufwinkte, nicht den Begleiter dazu aufforderte, mit ihm zusammen irgendwelche Männchen zu machen, sich nicht einmal genialisch durch das glänzende Kammersängerhaar strich, sondern einzig hinunter zu seinem Publikum sah, und in seinem Blick lag Ergriffenheit (eigentlich Lüsternheit) ob der eigenen Größe und der angeblichen Begeisterung des Publikums, ein Blick, den man in einer primitiven Kultur vielleicht als Ausdruck von dämonischer Besessenheit mißverstanden hätte, der aber tatsächlich nichts weniger war als das exakte Spiegelbild von Gottes Antlitz angesichts seiner Schöpfung (denn Grobfeld war ja nicht nur Kammersänger und Kartenspieler, sondern auch ein passionierter Jäger).
    Einen Moment lang war auch Cheng von diesem Bild kammersängerischer Jenseitigkeit überwältigt. Währenddessen zog Maria Baumann einen Blumenstrauß aus ihrer Handtasche (wie nicht anders zu erwarten, rote Rosen, und zwar einen sehr dichten Strauß) und warf diesen Grobfeld zu.
    Hin und wieder scheint das Leben tatsächlich in Zeitlupe

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