Cherubim
großen Schwester zugefallen.
Dagmar versuchte das Kind in ihrem Leib zu erspüren, doch da war nichts. Kein Strampeln, nicht das kleinste Flattern. Es war ja auch noch viel zu früh dafür. »Weißt du, Kleines, ich bin so froh, dass Maria so fürsorglich ist! Sie ist einfach eine gute Freundin, auch wenn sie wegen dir Sibilla holen will.«
Sibilla war als Engelmacherin bekannt am Spittlertor. Es ging das Gerücht, dass ihr in all den Jahren, in denen sie diese Tätigkeit ausübte, erst zwei Frauen weggestorben waren.
Dagmars Hand presste sich fester auf ihren Bauch. »Dich wegmachen lassen?«, flüsterte sie ihrem ungeborenen Kind zu. Die Vorstellung erfüllte sie mit Grausen, und sie hatte längst für sich entschieden, dass sie diesen Weg auf keinen Fall gehen würde.
Ein Lächeln bahnte sich seinen Weg auf ihre Züge. Sie konnte es spüren. Es machte sie hübscher, wenn sie lächelte. Ihre Augen bekamen dann etwas Strahlendes, das wusste sie. In der letzten Zeit lächelte sie allerdings viel zu wenig. Doch das würde sich wieder ändern. Wenn sie das, was sie heute bei den Nonnen in der Katharinengasse erfahren hatte, gewinnbringend umzusetzen verstand.
Plötzlich konnte sie gar nicht mehr begreifen, warum sie eben so unvermittelt in Tränen ausgebrochen war. Sie war doch schließlich von Gott gesegnet! Gerade in dem Augenblick, in dem sie seine Hilfe am meisten brauchte, sandte er sie ihr in Form eines Menschen, den sie seit Jahren zu finden versuchte. – Welch Wunder!
Kopfschüttelnd setzte sie ihren Weg fort. Und zuckte im nächsten Moment zusammen, weil eine der Talglampen an der Hausfassade erlosch, als sie gerade daran vorbeiging. Abrupt stand sie in Finsternis. Ihr Herz begann zu rasen. Schon als Kind hatte sie sich vor der Dunkelheit gefürchtet, und das hatte sich auch nicht gebessert, als sie erwachsen geworden war. Sie beschleunigte ihre Schritte, um in den nächsten Lichtkreis zu gelangen, der drei Hausfassaden weit entfernt war.
Im Stillen schickte sie einen Dank an die Umsicht der Männer des inneren Rates. Nach den Ereignissen im August hatten sie den Befehl erlassen, dass jeder, dessen Hausfront an der Straßenseite länger als drei Schritte maß, dafür sorgen musste, dass bis eine Stunde nach Mitternacht neben seiner Tür ein Licht brannte. Auf diese Weise hoffte man, die Ängste der Nürnberger zu besänftigen. Es waren nicht wenige, die auch Monate nach dem Großen Wahnsinn noch Engel und Dämonen in jeder finsteren Ecke sahen.
Der Hausbesitzer, in dessen Licht Dagmar jetzt trat, schien reich zu sein. Nicht nur ein einfaches Talglicht hatte er auf dem Sims neben seiner Haustür aufgesteckt, sondern eine Laterne hingehängt, deren Rückseite mit blankpoliertem Metall versehen war. Um ein Vielfaches verstärkt fiel das Licht der Flamme auf die Straße.
Der scharfe Wind ließ die Laterne an ihrem Haken pendeln, und für einen kurzen Moment konnte Dagmar sich in dem spiegelnden Schirm hinter dem Licht sehen. Sie blieb stehen und nutzte die günstige Gelegenheit, ihre Locken in der Frisur festzustecken. Die Laterne quietschte beim Schaukeln, und plötzlich hatte Dagmar eine Gänsehaut. Sie packte die Laterne mit einer Hand, um sie ruhig zu halten. Dann schaute sie genauer hin.
Was war das?
Ihr Gesicht befand sich nun so dicht an dem Metall, dass sich von ihrem Atem ein feiner Dunstschleier darauf legte. In der schneidenden Kälte verging er jedoch sofort wieder. Dagmar riss die Augen auf und drehte ihren Kopf ein wenig.
Sie hatte sich nicht getäuscht.
Das Weiße ihrer Augen: Dort, wo es beinahe unter den Lidern verschwand, trieben wolkige Schlieren in ihm, so, als habe der Wind sie gerötet. Schon wollte Dagmar die Laterne loslassen. Doch dann fiel ihr etwas auf. Dies hier war keine Rötung.
Die Schlieren waren schwarz.
Schwarz wie Pech.
»Heda!« Eine leise Stimme erklang hinter ihr. Dagmar zuckte zusammen. »Nicht erschrecken!« Eine Gestalt trat näher, blieb jedoch gerade außerhalb des Lampenscheins stehen. »Ich würde gerne deine Dienste in Anspruch nehmen!« Die Gestalt war hochgewachsen, aber sie wirkte nicht besonders kräftig. Die höfliche, geschliffene Sprache und die hellen, feingliedrigen Hände, die unter dem dunklen Umhang hervorschauten und sich nun in Dagmars Richtung hoben, ließen an einen Mann von Adel denken. Eine Kapuze beschattete die Augen des Mannes, und ein dicker Schal war so um Hals und den unteren Teil des Gesichtes geschlungen, dass er Mund und
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