Cherubim
keine ein. Dagmar stand steif wie ein Besenstiel da und ließ sich von Maria umarmen. Irritiert schob Maria sie ein Stück von sich fort und blickte ihr ins Gesicht. »Du willst dieses Kind um jeden Preis behalten, oder?«
Dagmar schüttelte energisch den Kopf. Maria atmete auf.
Dann nickte Dagmar, und Maria unterdrückte einen Fluch.
»Es ...« Dagmar schniefte und wischte sich über die laufende Nase. »Ich glaube, ich weiß, von wem es ist!«, flüsterte sie dann.
Maria war skeptisch. »Du hast jeden Tag mehrere Freier, wie kannst du da wissen ...«
Doch sie kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen, denn Dagmar fiel ihr mitten ins Wort. »Aber das ist es gar nicht, warum ich so ... so eine Heulsuse bin!«, schluchzte sie auf. »Es ist etwas ganz anderes ... ich ...« Sie holte tief und zitternd Luft. »Ich war heute im Kloster, und ich ...«
Maria ließ sie endlich los und wich voller Anspannung einen Schritt zurück. »Was ist passiert, Dagmar?«
»Ich glaube, ich weiß jetzt ...« Dagmar unterbrach sich, weil ihnen eine Gruppe Männer entgegenkam. Zu Marias Leidwesen blieben die Kerle direkt vor ihnen stehen.
»Hallo, Süße!«, sprach einer von ihnen Maria an. Seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr vollständig. Lange blonde Haare fielen ihm in die Stirn und verliehen ihm ein jugendliches, fast noch kindliches Aussehen. Ein starker Geruch von Branntwein strömte von ihm aus.
Maria bemühte sich, nicht das Gesicht zu verziehen. Sie war schlimmeren Gestank gewohnt als den von Schnaps, zumal dieser Kerl hier wahrscheinlich keinen billigen Fusel in sich hineingeschüttet hatte. Seiner Kleidung nach zu urteilen, gehörte er zum Patriziat, ebenso wie seine Freunde, die sich nun halbkreisförmig hinter ihm aufgebaut hatten und breit feixten.
»Wir sind nicht mehr im Dienst«, versuchte Maria den Mann abzuwehren.
»Er bezahlt gut dafür, dass ihr ihn entjungfert!«, rief einer der anderen glucksend, beugte sich vor und rüttelte an einer prall gefüllten Geldkatze, die dem Blonden vom Gürtel hing.
Bevor Maria und Dagmar das Gasthaus verlassen hatten, hatten sie tatsächlich Feierabend machen wollen. Doch der Abend war schlecht gelaufen, und gewöhnlich bezahlten junge Adlige recht gut dafür, wenn einer von ihnen zuvor noch nie bei einer Frau gelegen hatte. Besonders wenn man bei ihm für eine angenehme Erinnerung sorgte.
Andererseits brannte Maria darauf, zu erfahren, was ihre beste Freundin so durcheinandergebracht hatte. Fragend blickte sie sie an.
Dagmar holte Luft. »Geh ruhig mit!«, riet sie Maria. »Er sieht nach einem guten Fang aus. Wir können später weiterreden. Wenn du nach Hause kommst.«
Maria konnte ihr die Anstrengung ansehen, mit der sie sich zusammenriss. »Bist du sicher?«
Dagmar straffte die Schultern, und plötzlich empfand Maria eine tiefe Zuneigung zu ihr. Maria blickte den blonden Patrizier an. Er war eindeutig eine gute Partie, und sie konnte wahrlich jede Münzegebrauchen. Dankbar nickte sie Dagmar zu. »Gut. Wir sehen uns dann bald.«
»Wir haben viel zu besprechen«, meinte Dagmar.
Maria lächelte ihr aufmunternd zu. »Das wird schon wieder!« Dann schob sie all das für eine Weile von sich, ließ den Schal ein wenig von ihrer Schulter gleiten und trat einen Schritt auf den Blonden zu. »Was für Wünsche hättest du denn, Kleiner?«, schnurrte sie, und sie war froh darüber, dass die Dunkelheit der Gasse ihre geschwollene Nase vor den Blicken der Männer verhüllte.
Der Weiße Turm schlug die zweite Viertelstunde nach Mitternacht, und Dagmar runzelte die Stirn. Etwas war anders als sonst, doch sie vermochte nicht zu sagen, was. Erst als die Glocken längst wieder verstummt waren, fiel ihr auf, dass der Türmer von St. Sebald gar nicht geläutet hatte. Gewöhnlich erklangen erst die tiefen Schläge der Glocken dort, bevor die helleren des Weißen Turms und schließlich auch die schnellen, irgendwie hastig klingenden von St. Lorenz einfielen.
Heute jedoch hatten alle Stundenglocken den ganzen Tag über geschwiegen. Wie gut, dass wenigstens die zwei Türmer hier unten im Südteil der Stadt wieder auf dem Posten waren!
Dagmar eilte an der Frauentormauer entlang in Richtung Kornmarkt. Sie hatte das Gefühl, als sei die Nacht plötzlich sehr viel kälter geworden als zuvor.
Sie kannte Maria schon so lange, wie sie denken konnte. Gemeinsam waren sie im Findelhaus an der Schüdt aufgewachsen, und da Maria die Ältere von ihnen beiden war, war ihr von Anfang an die Rolle der
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