Cherubim
so unvermittelt aus der Dunkelheit, dass Raphael erschrocken zusammenzuckte. Rasch wandte er sich um und ließ seine Blicke umherschweifen, doch seine Augen hatten sich nach der Helligkeit der Nachtwächterlaterne noch nicht wieder an die Finsternis gewöhnt. Er konnte nicht mehr erkennen als einen Schatten, und er ärgerte sich darüber, dass seine eigene Lampe, die am Ende seines Jochs baumelte, zu schwach war, um die Ecken zu erhellen. Misstrauisch kniff er die Augen zusammen und schlug den großen Umhang, den er für seine Tätigkeit benötigte, über die Schulter zurück.
»Wer seid Ihr? Zeigt Euch!«
»Ich wollte Euch nicht erschrecken!« Ein Mann trat aus den Schatten, die ein hohes, im zweiten Stockwerk überkragendes Gebäude auf die Straße warf. Er war hochgewachsen und sehr schlank.
Als er näher trat, sah Raphael, dass er nicht nur dünn war, sondern recht mager. Rotblonde Haare umrahmten sein Gesicht, in dem ein freundliches, vertrauenerweckendes Lächeln saß. Die Augen des Mannes lagen im Schatten eines breitkrempigen Hutes, aber dennoch glaubte Raphael zu erkennen, dass sie sehr blau waren.
Ein nächtlicher Zecher kam um eine Hausecke und wankte an Raphael vorbei. Der Rothaarige wartete, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, erst dann sprach er Raphael erneut an. »Verzeiht. Ich habe gehört, was Ihr über die Arbeit eines Medicus sagtet. Ihr scheint Euch mit dieser Angelegenheit ein wenig auszukennen?«
Raphael zuckte die Achseln. »Ich höre nur zu, wenn die Leute reden.«
»Aber die Medizin scheint Euch zu interessieren.«
Da lächelte auch Raphael. »Ja!«, gestand er. »Ich glaube, ich wäregerne Arzt. Jemand zu sein, der den Menschen helfen kann, stelle ich mir wunderbar vor. Aber wie kann ich Euch zu Diensten sein?« Er verlagerte sein Gewicht vom linken auf das rechte Bein. Die Ketten an seinem Joch klirrten leise.
Der Mann deutete auf einen der Eimer. »Damit.«
Raphael schaute auf das hölzerne Gefäß an seiner Seite. Irgendwie fühlte er sich überrascht, denn er hatte nicht den Eindruck gehabt, dass der Mann diese Art von Dienst von ihm verlangen würde. »Ihr wollt ...«
Hell lachte der Mann auf. »Ja, aber nicht so, wie Ihr denkt! Was ich von Euch will, ist der Inhalt Eurer Eimer. Könntet Ihr ihn zu einem von mir vorgegebenen Zeitpunkt zu einem Haus liefern, das ich Euch nenne?«
»Ihr meint, Pisse?« Raphael fiel es schwer zu glauben, was er da hörte. Wozu, um Himmels willen, brauchte jemand, der bei klarem Verstand war, menschliche Pisse?
»Oh, ich bin bereit, Euch dafür zu bezahlen, aber nur wenn Ihr mir ab und an einen dieser Eimer voll vorbeibringt. Es muss aber reiner Urin sein, nicht ...« Der Mann unterbrach sich.
Raphael wusste schon. »Das ist kein Problem«, sagte er, auch wenn er noch immer keine Ahnung hatte, wozu dieser seltsame Kerl das Zeug benötigte. Er stellte eine entsprechende Frage.
Der Mann zuckte die Achseln, die Geste wirkte ausweichend. »Ich bin Doktor der Medizin. Ich brauche es für meine Arbeit.«
Raphael schüttelte den Kopf und fragte sich, ob der Kerl ihn veralbern wollte. Gerade eben noch hatte er zugegeben, dass er ihn bei seinem Gespräch über die Medizin belauscht hatte, und jetzt behauptete er, selbst ein Medicus zu sein? Raphael konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er verhöhnt wurde. »Ihr seid aber nicht im Auftrag von zwei großen Kerlen hier. Einer von ihnen hat eine Zahnlücke im Oberkiefer, genau hier.« Raphael zeigte auf einen seiner eigenen Schneidezähne.
Der Mann wirkte verwirrt.
»Das sind zwei Kumpel von mir«, erklärte Raphael. »Wir treiben gerne unsere Späße miteinander. Letztens haben sie mir eine Hure geschickt, und die ...«
»Nein!«, unterbrach ihn er Mann und lachte auf. »Ich gebe zu, der Schluss liegt nahe, dass ich einen Scherz mit Euch mache! Aber seid versichert, Eure Freunde haben mit diesem hier nicht das Geringste zu tun. Glaubt mir: Ich benötige den Harn nur, um ein paar besondere medizinische Studien durchzuführen.«
Raphael musste an diesen seltsamen Medicus denken, den Bürgermeister Zeuner angeblich in Einsiedeln getroffen hatte. Konnte es sein, dass studierte Männer allesamt ein bisschen verschroben waren?
Der Mann räusperte sich. »Wichtig ist allerdings, dass es sich um reinen Frauenurin handelt.«
»Das ist machbar.« Raphael rasselte mit der linken Kette. »Es ist sogar einfacher, denn Männer nutzen für diese Art Geschäft meine Dienste überaus selten. Sie
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