Cherubim
»Nicht viel los in den Gassen in diesen Zeiten.«
Der Nachtwächter warf einen Blick über beide Schultern und tat so, als sei ihm das noch gar nicht aufgefallen. »Tatsächlich!«
Raphael unterdrückte ein Seufzen. Allzu gern hätte er einfach seinen Weg fortgesetzt, ohne sich mit Dummköpfen wie diesem Kerl hier abgeben zu müssen. Aber seine Arbeit als vom Stadtrat bestellter Abtrittanbieter brachte es mit sich, dass er häufig mit Menschen zu tun hatte, die versuchten, Scherze zu machen oder auf andere, idiotische Weise ihre Scham zu überspielen, wenn sie seine Dienste in Anspruch nahmen. Er war derlei gewöhnt.
»Wenn du mich fragst«, bemerkte der Nachtwächter, »dann war mir sowieso nie klar, warum der Rat euch eingestellt hat. Ich meine, es gibt doch genügend dunkle Ecken, warum muss dann ein armer Tropf wie du mit diesen beiden ekligen Eimern durch die Gegend laufen?«
»Weil Bürgermeister Zeuner ein gelehrter Mann ist und in Einsiedeln war.«
»Einsiedeln? Und was, bitte schön, soll das heißen?«
Kurz spielte Raphael mit dem Gedanken, den Trottel mit seiner Unwissenheit einfach stehenzulassen. Aber dann antwortete er doch.
»Einsiedeln ist ein kleiner Ort in den Alpen«, erklärte er geduldig. »Genaueres weiß ich auch nicht, aber es heißt, Zeuner hat dort einen Medicus getroffen. Muss ein ziemlich verschrobener Kerl gewesen sein.«
Der Nachtwächter schaute fragend, und Raphael fuhr fort: »Er hielt es für richtig, neue medizinische Erkenntnisse dadurch zu erlangen, dass er seine Patienten anschaute .« Er betonte das letzte Wort mit einem spöttischen Schnauben.
Doch der Nachtwächter schien nicht zu begreifen, was er ihm sagen wollte. Raphael musste sich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen.
»Ich meine«, redete er weiter und konnte sich einen kleinen Seitenhieb nicht verwehren, »es weiß doch jeder, dass es in der Medizinnicht anders ist als in der Bibelkunde: Die Altvorderen haben gesagt, was es zu sagen gab. Ein Gelehrter von heute muss nichts anderes tun, als ihre Schriften zu studieren, dann wird er alle nötigen Erkenntnisse erlangen, die er braucht, um seine Tätigkeit auszuführen.« Er bildete sich einiges darauf ein, dass er Dinge wusste, die bei einem einfachen Mann wie ihm eigentlich unüblich waren.
Der Nachtwächter blinzelte. »So? Nun ja. Wahrscheinlich.«
Raphael unterdrückte ein Seufzen. »Es ist so, glaub mir! Sich die Menschen anzuschauen! Was für ein Unsinn! Jedenfalls, dieser Medicus aus Einsiedeln, er hat Zeuner einen Floh ins Ohr gesetzt. Er war nämlich der festen Überzeugung, dass sich die Seuchen in einer Stadt merklich verringern lassen, wenn man die Leute daran hindert, einfach auf die Straße zu scheißen.«
Jetzt nickte der Nachtwächter verstehend. »Und kaum ist er zurück in Nürnberg, überredet Zeuner den Rat, diesen Unsinn zu überprüfen!«
»Indem er eine Truppe von Abtrittanbietern ins Leben ruft, ja.« Raphael verlagerte das Gewicht der Eimer auf seinen Schultern ein wenig. Stolz keimte in seiner Brust. »Nürnberg ist übrigens die einzige Stadt im gesamten Reich, die so was hat.«
Im Grunde, dachte er, konnte er sich nicht beklagen. Der Rat zahlte ihm ein Grundgehalt, von dem er sich und auch die Liebschaften, die er ab und an pflegte, über die Runden bringen konnte. Und oftmals erhielt er von seinen Kunden auch noch die eine oder andere Münze zugesteckt. Die Arbeit war zwar nicht besonders angenehm, aber sie war vergleichsweise leicht. Und auch an den Geruch hatte er sich längst gewöhnt, ebenso an die Tatsache, dass die Leute ihn beinahe ebenso schräg ansahen, wie sie es bei einem Henker oder einem Abdecker taten.
»Nun ja.« Der Nachtwächter kratzte sich erst am Kopf, dann zwischen den Beinen. »Mal sehen, wie lange es euch noch gibt.«
Raphael sah ihn an. »Wie meinst du das?«
»Na, weil Zeuner doch seit dem Großen Wahnsinn verschwunden ist«, antwortete der Nachtwächter. »Dauert bestimmt nicht mehr lange, und eure seltsame Truppe von Eimerträgern wird dem Rat zu teuer.«
Da sei der liebe Gott vor!, dachte Raphael erschrocken. Natürlich hatte er gewusst, dass Bürgermeister Zeuner als verschollen galt. Aber die Schlüsse, die der Nachtwächter aus dieser Tatsache zog, waren ihm bisher noch nicht in den Sinn gekommen.
»Wie dem auch sei!« Der Nachtwächter tippte sich an die Mütze. »Dann gehab dich wohl!« Er nahm seinen Stab wieder auf und setzte seinen Weg fort.
»Mein Herr?«
Die leise, samtige Stimme kam
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