Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
zweiten mussten viel älter sein. Wieder pochte ihr Herz. Sie betrachtete nur die oberste Seite, denn diesen Schatz wollte sie später in aller Ruhe heben. Die Schrift war verblasst, aber gut lesbar. Am rechten Rand fehlten Teile des Pergaments. Der Autor war jedoch ungewöhnlich großzügig mit dem kostbaren Material umgegangen. Rund um den Text hatte er breite Ränder frei gelassen, daher schien der Inhalt durch die Schäden nur wenig gelitten zu haben. Auch fand Chiara keine Spuren von Feuchtigkeit oder Schimmel. Der Keller der Parellos eignete sich offenbar nicht nur zur Lagerung von Wein. Auf Antonios Schreibtisch fand sie einen Block, dessen erste, mit Namen, vor allem Frauennamen, Telefonnummern und Kritzeleien übersäte Seiten sie ohne Skrupel herausriss. Es fiel ihr umso leichter, als ihr sein klares Nein von vorhin noch unangenehm in den Ohren klang. Sie betrachtete nun das jüngere und viel weniger umfangreiche Manuskript. Es umfasste neun Bögen. Das dicke Papier sah so unberührt aus, als wäre es aus den Händen des Schreibenden direkt in Mappe und Truhe gelangt. An das Ende des Dokuments hatte der Verfasser seinen Namen und ein Datum gesetzt. Alexandro Parello, 18. Luglio 1738. Hatte er Marias Kammer zumauern lassen? Sie zog das abgeschnittene Siegel aus ihrer Tasche und betrachtete es im Licht von Antonios Tischlampe. Die eingeritzten römischen Ziffern auf der Rückseite bestätigten die Jahreszahl. Aber auf der Vorderseite, unter dem P, fand sie noch zwei arabische Ziffern und einen Buchstaben, die sie bei der oberflächlichen Prüfung in der Kammer übersehen hatte: 19 L. L. für Luglio – Juli. Die Versiegelung erfolgte nur einen Tag nach der abschließenden Unterschrift. Wenn das zutraf, war Chiara vielleicht die erste, die diese Aufzeichnungen zu Augen bekam. Innerlich bebte sie vor Aufregung, als sie zu lesen begann.
18___
Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. [Paulus Brief an die Galater, 6,7]
Ich, Alexandro Parello, fühle mein Ende nahen. Ich erwarte den letzten Tag mit Hoffen und mit Grauen.
Die größte Last, die ich trage, kann ich im Diesseits nicht abwerfen und auch im Jenseits wird sie nicht von meinen Schultern genommen werden.
Die Sünde wiegt schwer: Ich habe meinen besten Freund getötet, den ich mehr liebte als meine eigenen Brüder. Er hieß Emilio Vanetti. Es geschah im Jahre des Herrn eintausendsiebenhundert. Das ist jetzt 38 Jahre her. Vor 39 Jahren hatte Emilio das Instrument gefunden, das ich das Katapult des Teufels nenne. Ein Vorfahr von ihm hatte es in dunkler Vergangenheit aus dem Land Ägypten mitgebracht. Danach ruhte es in einer großen, hohlen Tonfigur der Mutter Gottes für Jahrhunderte. Wenn es nur dort geblieben wäre, wie viel Schmerz wäre Emilios Familie und mir selbst erspart geblieben! Aber die Mutter Gottes zerbrach und Emilio fand die Schriften seines Vorfahren und das Katapult des Teufels. Beide liegen vor mir, während ich dies niederschreibe. Hundert Mal, tausend Mal wollte ich sie vernichten und zerstören, aber das durfte ich nicht. Emilios Erbe gehört nicht mir. Oft wollte ich seine Brüder, seine Kinder und seine Frau in der Kaiserstadt Wien aufsuchen, ihnen alles beichten und ihnen übergeben, was ihnen zusteht.
Ich habe es nicht getan. Nicht aus Angst vor der Schande und der Strafe, glaubt mir das. Ich habe es nicht getan, weil ich sie vor dem Verderben bewahren wollte. Vor dem Verderben, das ihnen den Gatten, Vater und Bruder raubte, und mir das diesseitige Glück und das jenseitige Heil.
Ich kann Emilios Erbe nicht übergeben und nicht vernichten. Was soll ich tun?
Jetzt, kurz vor meinem Tode, habe ich beschlossen, das Schicksal entscheiden zu lassen. Ich habe heimlich eine kleine Truhe in den Keller gestellt. Dort hinein werde ich das Katapult des Teufels legen, dazu die alte, verfluchte Schrift und meine Beichte. Die Truhe wird eingemauert und der Gang verschlossen. Ich beschütze die Erben, ohne ihr rechtmäßiges Erbe zu vernichten.
Ich habe jahrelang darüber gegrübelt, ich habe meine Freude und meine Freunde verloren, sogar meine Familie hasst mich längst mehr als sie mich liebt. Ich werde tun, wie ich beschlossen habe. Ich kann nicht anders, so wahr mir Gott helfe.
Doch zuvor will ich niederschreiben und festhalten, was mein Verbrechen war. Vielleicht rechnet der Herr es mir an, dass ich nichts verschweige und alles beichte, wenn auch keinem lebenden Ohr. Denn kein lebendes Ohr könnte es verstehen.
Emilio
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