Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
sich nicht ausreden können, falls etwas schief ging. Wer weiß, wo der dann stecken mochte.
17___
Florenz
Antonios Wohnung lag im dritten Stock direkt gegenüber dem Battistero di San Giovanni. Wenn er sich aus dem Fenster lehnte, sah er einen Teil der Westfassade des Doms und die gesamte Nordfassade bis zur großen Kuppel.
Die Wohnung selbst konnte mit dem großartigen Ausblick nicht mithalten. Es erwies sich als schwierig, zwischen all den Zeitschriften, Büchern, Wäschestapeln und dem übrigen Kram einen freien Platz zu finden. Schließlich legten sie ihren Fund auf ein drehbares Tablett, gedacht für Beilagen und Salate. Bislang hatte es als Podest für ein Einmachglas mit einem konservierten Grasfrosch gedient. Ein Andenken an Antonios Zoologie-Semester. Langsam ließ er das Ding mit der Platte kreisen. Ähnelte es eher etwas Technischem oder doch einer Skulptur? An den beiden parallelen Scheiben und den sie verbindenden schrägen Griffen konnten sie keine scharfe Kante entdecken. Selbst die Schlitze, aus denen vorhin das Licht gedrungen war, schienen verschwunden. Der rundum perfekt geschwungene Metallkörper schimmerte in einheitlichem Grau. Chiara wollte es nicht glauben.
„Wo ist das Licht?“ fragte sie. „Wir haben es beide gesehen.“
„Er hat sich verschlossen“, sagte Antonio. „Ich habe keine Ahnung, wie er das macht, aber er kann es. Er hat es vorhin schon einmal getan, als du im Keller warst.“
Vorsichtig strich er über die seidenglatten Griffe. Waren es Griffe? Nichts geschah. Da nahm er sie so in beide Hände, wie es ihm als natürlichste Haltung erschien. Drei schmale Rechtecke, dünne, unterbrochene Streifen schwachen Lichts eigentlich, erschienen an beiden Schmalseiten der oberen Scheibe. Chiara strich mit der Kuppe des Zeigefingers darüber.
„Kein Schlitz“, stellte sie fest. „Das Metall selbst leuchtet.“
Antonio nickte.
„Ich frage mich, warum er leuchtete, als du die Truhe geöffnet hast. Da hatte ihn noch niemand berührt.“
Er sprach erneut über das Ding wie über eine Person. Chiara ging abermals darüber hinweg.
„Wahrscheinlich wollte er nach dreihundert Jahren nicht übersehen werden“, erwiderte sie nur halb im Scherz.
Antonios schlanke Finger glitten erneut über die Griffe und verursachten zusätzliche Leuchtstellen. Eine Weile beobachtete ihn Chiara.
„Wir sollten zur Polizei gehen oder zu einem Forschungsinstitut. Was immer das ist, es muss von Profis untersucht werden.“
„Nein“, erwiderte er knapp und viel entschiedener als sonst.
„Wieso wehrst du dich so dagegen?“ fragte sie verblüfft. „Vielleicht ist es gefährlich.“
„Gefährlich oder nicht, sie würden ihn uns wegnehmen. Vielleicht ein paar Worte der Anerkennung für den ehrlichen Finder, das wär’s.“
Er sah sie fest an. Fester als sie es bei ihm je erlebt hatte.
„Ich bin mehr als ein Finder. Ich bin ein Parello. Und ein Parello hat ihn vor langer Zeit in Marias Kammer versteckt.“
„Warum redest du dauernd von ‚ihm’?“ fragte sie, nun doch irritiert. „Das ist kein Mensch.“
Antonio hob überrascht die Brauen.
„Ich weiß nicht. Seit ich mich mit ihm beschäftige, bin ich überzeugt, dass er eine Persönlichkeit hat.“
Chiara dachte an ihre eigenen Empfindungen, die sich davon kaum unterschieden. Für einen Augenblick wurde Antonios Blick misstrauisch, als er das Gerät in seinen Händen betrachtete.
„Meinst du, es beeinflusst mich?“
Sie zuckte die Achseln. Plötzlich überzog das altvertraute, jungenhafte Grinsen sein eben noch ernstes Gesicht.
„Und wenn das Ding tatsächlich gefährlich ist, möchtest du dann wirklich, dass ausgerechnet unsere Regierung es in die Hände bekommt?“
Gegen dieses Argument konnte Chiara nichts vorbringen. Sie lächelte zurück.
„Ich sehe mir die Manuskripte an.“
Das war es, was sie wirklich reizte und sie tat es mit berufsmäßiger Selbstsicherheit. In der Biblioteca Nazionale Centrale hatte sie häufig mit alten Handschriften zu tun, sie liebte diese Arbeit. Zunächst untersuchte Chiara die Ledermappen, die zwei unterschiedlich umfangreiche Stapel von losen Bögen schützten. Starkes Rindsleder, alt, hart und fest. Die Umschläge entstammten offensichtlich ein- und derselben Werkstatt und waren ihrem Inhalt genau angemessen worden. Die Manuskripte befanden sich dagegen in sehr unterschiedlichem Zustand. Der des einen, dünneren, schien ihr hervorragend. Die dicken, brüchigen Pergamentbögen des
Weitere Kostenlose Bücher