Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Gefährlich ist es also – wenn er nicht gelogen hat. Allerdings sehe ich keinen Grund dafür. Deshalb sollte es unsere Regierung besser nicht in die Hände bekommen. Okay. Aber was willst du damit anfangen?“
Antonios Hände entlockten dem Ding an verschiedenen Stellen geometrische Formen in mehreren Farben.
„Ich will wissen, was es kann.“
„Es schleudert Leute und Steine und Felsbrocken durch die Luft. Das sagt dein Urur-und-so-weiter-Opa. Reicht das?“
„Er sagt aber nicht, wie. Oder?“
„Nein. Er erwähnt einen Schlüssel, der es erst zur wirklich teuflischen Waffe machen soll. Das sind seine Worte.“
Antonio blickte auf. „Einen Schlüssel? Wo ist er?“
„Das sagt er nicht. Oder doch. Sein Freund Emilio trug ihn um den Hals, als er ihn auf Felsturmhöhe anhob und dann fallen ließ. Es fehlte ihm der Mut, nachzusehen.“
„Dann ist er wohl verloren.“
Er drehte das ‚Katapult’ in alle Richtungen. „Ich kann mir nicht vorstellen, wo man hier einen Schlüssel einsetzen sollte. Vielleicht ist ein Code gemeint?“
„Emilio trug ihn um den Hals wie ein Amulett. Das klingt nach einem richtigen Schlüssel. Hast du etwas zu essen da?“
Antonio beschränkte seine Gastgeberrolle auf einen knappen Hinweis.
„Tante Rosa hat gestern eine Schüssel Panzanella vorbei gebracht. Sie würde mich umbringen, wenn sie wüsste, dass ich nur einen Teller gegessen habe.“
„Keine Angst. Von mir erfährt sie es nicht“, versicherte Chiara, bereits auf dem Weg zum Kühlschrank. Der Brotsalat war nicht mehr so gut wie er gestern gewesen sein musste, aber immer noch saftig und geschmackvoll. Für die hungrige Chiara eine Delikatesse. Ihr Papa hätte die Nase gerümpft. Natürlich im Geheimen, um seine Tochter nicht zu verletzen - und sei es auf einem noch so nebensächlichem Gebiet. Chiara dachte, dass er bei dieser Formulierung schon wieder die Nase, seine imaginäre, innerliche Nase gerümpft hätte. Er liebte gutes Essen. Dieser Gedankengang steigerte ihren Appetit nur noch. Sie sah auf die Uhr. Halb sechs. Wenn sie jetzt anrief, blieb ihm genügend Zeit, eine Kleinigkeit herzurichten. Er meldete sich erst nach dem achten oder neunten Läuten und sie wusste, dass sie ihn geweckt hatte.
„Pronto?“
„Tut mir Leid, Papa“, sagte sie. „Hast du gut geschlafen?“
„Sag’ bitte nicht, dass es dir Leid tut, wenn du mich anrufst. Willst du mich besuchen?“
„Ja, gerne. Du fährst übermorgen?“
„Erst am Mittwoch“, korrigierte er. „Der Pharmaindustrie sei Dank. Magst du mit mir essen? Wann kommst du?“
„Ist dir halb sieben recht?“
„Sehr recht, Liebling. Bis später.“
„Ciao Papa!“
20___
Um sechs schlenderte Chiara über die Piazza dell‘ Repubblica durch die Via degli Strozzi und die Via de Tornabuoni in Richtung Arno. Im Vorübergehen glitt ihr Blick über die Auslagen, speziell jene der Modegeschäfte. Vor einem hatten sich mehrere Leute versammelt und diskutierten, lachten, manche schüttelten nur die Köpfe und gingen weiter. Eine ältere Dame kam ihr entgegen, mit vor Empörung geröteten Wangen. Sie fing Chiaras erstaunten Blick auf und sagte im Vorübergehen: „Eine Schande ist das. Italien ist verkommen wie nie zuvor! Und schuld ist die Politik. Rechte, Linke, alle zusammen.“
Chiara bezog den Ausbruch nicht auf sich. Es musste an der Auslage liegen. Neugierig näherte sie sich und erkannte zunächst nur die üblichen Modepuppen, keine Plakate mit schrägen Slogans oder ordinäre Graffiti, wie sie vermutet hatte. Dann sah sie genauer hin. Da gruppierten sich nicht die üblichen Modepuppen, da posierten ziemlich krasse Provokationen. Ganz rechts stand ein männliches Modell, bekleidet nur mit Boxershorts. Ungewöhnlich daran war, dass sich unter den Shorts mehr schlecht als recht eine kräftige Erektion verbarg und die rechte Hand der Puppe mit eindeutigem Griff ins Kleidungsstück hineinreichte. Daneben hielten sich zwei weibliche Puppen umarmt, die einen leidenschaftlichen Zungenkuss tauschten. Die letzte und eindeutigste Gruppe bestand aus einem liegenden Mann, dessen Designerhose bis zu den Knien hinunter geschoben war, und einer auf ihm knienden Frau, deren Designerrock er über ihrem nackten Hintern festhielt. Sie machten eindeutig Sex – wenn auch bewegungslos - mit präzis nachgebildeten Sexualorganen, die Schaufensterpuppen im Normalfall definitiv abgehen. Chiara hatte nicht geahnt, dass es solche Exemplare überhaupt gab. Aber was gibt es
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