Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Alexandro Parello nicht ganz genau gewusst hatte, was kommen würde, als er in jener Regennacht seinem Freund auf den Hügel folgte. Vielleicht hatte er sich die Wahrheit erst im Nachhinein so zurechtgelegt, wie es in seiner Beichte niedergeschrieben stand.
„Du weißt, wie es funktioniert“, folgerte sie. „Gratuliere. Du bist geschickter als Emilio. Er brauchte viel länger.“
Antonio strahlte sie wortlos an und lenkte den Wagen in rascher Fahrt über den Borgo Pinti. Sie wechselten kein weiteres Wort, ehe sie in seiner Wohnung standen und er die Tür verriegelt hatte. Wieder strahlte er Chiara an.
„Er funktioniert wirklich“, wiederholte er dann den Satz, der sich in den vergangenen Stunden unauslöschlich in ihm festgesetzt hatte. „Wir müssen es festhalten.“
Zu seinen hoch fliegenden Plänen, für deren Durchführung ein Videobeweis unablässig war, hatte sich nämlich eine ernste Sorge gesellt. Was, wenn die Energie des A-Gravs sich plötzlich erschöpfte? Antonio hatte ja keine Ahnung, wo er sie hernahm. Dann wäre er der Einzige, der seine Kraft bezeugen könnte. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie viele Leute ihm seine Geschichte ohne Bestätigung glauben würden.
Chiara hielt den Atem an, als sie – durch den Sucher des Camcorders – die Aktivierung des A-Gravs betrachtete. Sie filmte, wie Antonio den Ball spielerisch durch die Wohnung bewegte und dann, viel beeindruckender, den schweren Kleiderkasten bis zur Decke hob und vorsichtig wieder absetzte. Dann trat er ans Fenster.
„Halte aufs Display“, sagte er. Der A-Grav wies auf den Dom. Antonio beugte sich nicht vor, so dass nur ein Teil des Portals und des Langschiffs zu sehen waren.
„Jetzt pass’ auf!“
Er betätigte die Taste zur Objektwahl. Wie durch Geisterhand wichen alle Hindernisse zurück und die gesamte Nord- und Westansicht erschien in der Auswahl. Zugleich begann das Display orange zu blinken und ein schmaler Schlitz öffnete sich unmittelbar oberhalb des Bildes.
„Siehst du das?“ flüsterte er.
Chiara setzte den Camcorder ab und starrte auf den Schlitz.
„Die Öffnung für den Schlüssel. Der Schlüssel, der dem Katapult erst seine wirklich teuflische Kraft verleiht ...“
Sie starrten jetzt beide auf das blinkende Display.
„Meinst du“, fragte sie, „dass du mit dem Schlüssel den Dom ...“
„Ja“, sagte Antonio. „Ich glaube, mit dem Schlüssel wäre es möglich.“
Er deaktivierte den A-Grav.
„Hast du noch eine Stunde für mich übrig?“
Sie sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten nach sechs.
„Okay. Aber langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun.“
„Das brauchst du nicht, Cara mia“, versicherte Antonio und küsste sie auf den Scheitel. „Ich habe alles unter Kontrolle.“
Sie hielt es für taktvoller, darauf nicht zu antworten.
29___
Wenige Minuten später saßen sie wieder im zugigen Cabrio. Der Morgenverkehr setzte zaghaft ein, ließ sie aber noch zügig vorankommen. Das Wetter hatte gewechselt, der Himmel hing grau und regenschwer über der Stadt.
„Wohin jetzt?“ erkundigte sich Chiara.
„Richtung Calenzano. Da kenne ich einen Schrottplatz ...“
„Ah, ja“, erinnerte sie sich und bewies weniger Takt als vorhin. „Das ist der, wo du den fast geschenkten Ferrari abholen wolltest.“
Antonio nickte nur und fuhr schweigend weiter. Er fühlte sich nicht in der Stimmung, um dumme Geschichten aus seinem früheren Leben aufzuwärmen. Sie befanden sich in der Peripherie der Stadt, dort wo sich alles sammelte, was zu modernen Städten gehörte, Platz brauchte und unattraktiv war. Gewerbebetriebe, Industrie, Lagerhallen, Speditionen und Sciaraffas Schrottplatz. Sciaraffa gab es nicht mehr. Er hatte sich unter Zurücklassung seiner Familie, erheblicher Schulden und zweier Hektar voll Schrotts in Luft aufgelöst. Oder in Rauch. Speziell im Müllbereich verfügte die Mafia als soziale Ordnungsmacht Italiens über jede Möglichkeit.
Die Einfahrtsschranke war einmal aufgebrochen worden und ragte seither wie ein an der Spitze leicht geknickter, mahnender Zeigefinger in die Luft – auch ohne Schranke kein einladender Ort. Rechts und links der grob geschotterten Wege stapelten sich Autowracks, Reste von industriellem Gerät, verrostete Kessel, zusammengesackte Baumaschinen, Alteisen jeglicher Art. Wasserpfützen glänzten ölig, da und dort hatte jemand seinen Hausmüll abgekippt. Hierher verirrten sich keine Liebespärchen. Ab und an fuhr ein Wagen der Polizia
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