Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
wissenschaftliche Kraft, die unter der eher symbolischen Anleitung ihres Chefs weitgehend eigenständig eine Projektarbeit durchführte und dazu die zwei Studenten einsetzen durfte. Nebenbei hielt sie Seminare an der Universität.
„Federico hat angerufen“, bemerkte Beatrice mit einem Anflug von Missbilligung. „Er ist krank. Wieder einmal.“
Chiara zog fragend die Augenbrauen hoch, während sie den Camcorder in einer Schreibtischlade verstaute. Die Wangen der Studentin hatten sich ein wenig gerötet. Sie schien es zu wissen und machte eine Bewegung, die ihr langes schwarzes Haar für Momente wie einen Vorhang darüber breitete.
„Ich bin ihm am Samstag auf einer Party begegnet. Er hat mich nicht einmal erkannt. Und das nicht zum ersten Mal.“
„So betrunken?“
„Nicht nur betrunken, glaube ich. Keine Ahnung, was er alles nimmt.“
„Hast du ihn darauf angesprochen?“
„Er macht sich nur lustig über mich.“ Sie wurde jetzt richtig rot. „Ich habe mir überlegt, ob vielleicht du mit ihm reden würdest. Auf dich hört er.“
„Und dir liegt viel an ihm?“
Beatrice nickte. Chiara fragte sich leicht alarmiert, ob sie gerade dabei war, die Rolle der vernünftigen älteren Schwester als Dauerbesetzung zu übernehmen. Für Antonio ohnehin, jetzt für Beatrice oder gar für Federico. Vielleicht hatte sie so eine Ausstrahlung.
„Ich werde sehen“, murmelte sie. Eine Zeitlang arbeiteten die beiden Frauen vor ihren Bildschirmen. Dann fielen Chiara die DVDs ein. Sie druckte eine Liste aus und bat Beatrice, ihr die Bücher aus dem Magazin zu besorgen. Während die Studentin den Auftrag erledigte, nahm sie die Silberscheibe aus dem Camcorder, kopierte sie und brannte von der Kopie drei Rohlinge. Sie schrieb jeweils A-Grav auf die Rückseite und darunter das Datum. Das Original behielt sie, die drei Kopien steckte sie in ein Kuvert, das sie zuklebte. Die Kopie auf der Festplatte löschte sie. Als Beatrice, die es bei ihren Aufträgen nie eilig hatte, zurück kam, kümmerte sie sich längst wieder um ihre Arbeit. Doch sie war nicht so konzentriert wie sonst. Das verschlüsselte Dokument ging ihr nicht aus dem Kopf. Es konnte Informationen enthalten, die für Antonio nützlich sein mochten. Und sie hatte so eine Ahnung, dass er alles, was für ihn nützlich sein konnte, dringend brauchen würde. Kurz entschlossen suchte sie Dottore Montinelli auf, den sie sich gar nicht anders vorstellen konnte als hinter seinem Schreibtisch sitzend, den dicken, kahlen Schädel über einen Folianten gebeugt. Freundlich zwinkerte er sie durch zentimeterstarke Brillengläser an. Er erklärte sich sofort damit einverstanden, dass sie den Nachmittag frei nahm. Chiara wunderte sich nicht darüber, sie hegte seit langem den Verdacht, dass er mit Freuden allen Angestellten für alle Zeiten frei gegeben hätte, wenn man ihn dafür nur mit seinen Büchern in Ruhe ließe.
„Vielen Dank, Dottore“, sagte sie.
„Ich bin froh, eine so fähige Mitarbeiterin zu haben wie Sie“, erwiderte er charmant. Sie fragte sich flüchtig, ob sich hinter seinen dicken Brillengläsern noch andere Leidenschaften verbergen mochten als jene für die Wissenschaft. Sie sah den kennerhaften Blick nicht, mit dem er ihre Rückenansicht musterte, als sie sein Büro verließ. Signorina Gosetta, die in Montinellis Vorraum saß, sah ihn. Sie war nicht amüsiert.
31___
Chiara kehrte in ihr Büro zurück, packte ihre Sachen, verabschiedete sich von Beatrice und schlug den Weg zur Cafeteria ein. Michele von der Haustechnik und Fabio, der im Verwaltungsbüro nicht näher definierte Aufgaben wahrnahm, schlossen sich ihr an. Sie taten das so zuverlässig, wenn sie ihr Büro verließ, dass sie schon ihre Kollegin verdächtigte, ihnen Tipps zu geben. Beide überfielen sie mit Fragen nach ihrem Wochenende, ihrem Befinden, ihrer Ansicht über die Serie A, den neuesten Skandal in Rom und natürlich das Wetter. Sie begriff, dass sich die Cafeteria für ihr Treffen mit Antonio nicht unbedingt eignete. Die Kollegen, ohnehin Stammgäste des Lokals, würden nicht von ihrer Seite weichen.
Sie drehte sich um, lächelte die Männer an und sagte, „Ich muss noch eine Besorgung machen. Bis morgen dann. Ciao.“
„Ciao, Dottoressa“, erwiderten sie und sahen enttäuscht aus. Chiara entschädigte sie mit einem weiteren Lächeln und wählte den Weg, den Antonio nehmen würde, falls er es sich nicht nehmen ließ, sie abzuholen. Sie hatte Glück. Er stieg gerade die ersten
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