Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Weise bedrückt. Vor der Haustüre traf sie auf Signora Dragani, die drei Etagen unter ihr wohnte. Die Signora war eine rundliche Dame mit grauem Haar, mittlerweile sehr zufriedene Witwe. Als Chiara einzog, hatte Signora Dragani versucht, sie zu bemuttern. Das gab sie schnell auf, aber auf die ständig gleiche Ermahnung mochte sie nicht verzichten.
„Sie müssen mehr essen, Kindchen, sonst kriegen Sie nie einen Mann.“ Das sagte sie auch heute noch regelmäßig. Und lachte dazu.
„Wissen Sie, warum ich darüber lache?“ hatte sie Chiara nach dem Tod ihres Mannes einmal gefragt. „Meine Mutter hat es 20 Jahre lang zu mir gesagt. Und dann habe ich Carlo bekommen. Seither weiß ich, dass ich viel weniger hätte essen sollen. Am besten gar nichts. Aber jetzt geht es mir gut.“
Chiara mochte sie gerne, spürte aber keine Lust zum Reden. „Es tut mir Leid, Signora“, sagte sie deshalb im Vorübergehen. „Ich habe es heute furchtbar eilig.“
Signora Draganis Hand schoss vor und packte ihren Ellbogen.
„Nur auf ein Wort, Dottoressa. Sehen Sie nicht hin. Dort auf der Bank an der Haltestelle sitzt ein Mann in einem hellen Mantel. Bei diesem Wetter. Sie wissen, wie die Bänke sind, wenn es kühl und feucht ist. Kennen Sie ihn?“
Chiara sah den Mann, ohne den Kopf verdrehen zu müssen. Es stimmte, er trug einen hellen, anscheinend teuren Mantel. Wenn er ihn mochte, würde er es bedauern, sich auf die schmutzige Bank gesetzt zu haben. Aber was ging sie das an?
„Nein.“
„Er war im Haus“, flüsterte ihre Nachbarin. „Ich habe ihn gesehen, als er von oben kam.“
„Da wohnen noch sechs Parteien“, wandte Chiara ein. „Wahrscheinlich hat er jemanden besucht.“
„Hat er nicht“, erwiderte die alte Dame mit einer Sicherheit, die jeden Zweifel ausschloss. „Und da Sie ihn auch nicht kennen, weiß ich nicht, was er dort zu suchen hatte.“
Sie tätschelte Chiaras Oberarm und ging.
Chiara warf noch einen Blick zur Bank. Ein unauffälliger Mann um die fünfzig. Ein Allerweltsgesicht ohne etwas Typisches daran. Dennoch irgendwie bekannt. Oder gerade deshalb? Nein, sie hatte ihn vor nicht langer Zeit einmal gesehen ... Glaubte sie zumindest einige Sekunden lang. Ihr Gefühl verdichtete sich nicht zu einer konkreten Erinnerung. Er trug einen Hut mit breiter Krempe, der zum Mantel passte. Entspannt saß er dort, wie jemand, der am Waldrand einen milden Frühlingswind genießt. Und nicht den Lärm und die Abgase des Verkehrsgewühls, die noch das Wärmste an diesem düsteren Tag waren.
Chiara lief die Stufen zum Nest hinauf und fühlte sich besser, als die Geborgenheit der Wohnung sie umhüllte. Nach einer Weile trat sie auf den Balkon und sah in die Tiefe. Der Mann saß noch immer unten. Ganz so, als wäre es der angenehmste Ort, den man sich vorstellen konnte.
Das verschlüsselte Manuskript hatte sie nach Hause getrieben. Doch ehe sie diese Arbeit in Angriff nahm, wollte sie nachsehen, ob sich etwas über heute lebende Vanettis ausfindig machen ließ. Sie setzte sich an den PC und begann ihre Suche nach den möglichen Nachkommen von Guido und Emilio.
33___
Wächter, Eintrag 731.431
Jedes einzelne Leben ist das Züngeln einer mehr als 13 Milliarden Jahre alten Flamme. Und kein Züngeln wird jemals genau dem anderen gleichen. Ich habe wohl schon angedeutet, dass ihr als intelligente Spezies nicht gerade in der Oberliga spielt – wenn ich wieder ein Bild aus eurem seltsamen Alltag gebrauchen darf. Doch eure Ähnlichkeit mit den Schöpfern in vielen Aspekten der biologischen Architektur, macht euch dennoch interessant. Wie ich schon ausgeführt habe: Vielleicht könnt ihr irgendwann dem Gen-Pool überlegener Arten dienen. Ich weiß, ihr seid sehr eingebildet und empfindlich, deshalb betone ich es nochmals: Ihr dürft diese Mission nicht abwertend verstehen, ganz im Gegenteil! Gemessen an eurem Potenzial ist es eine sehr schöne und würdige Berufung. Haltet mich nicht für herablassend oder überheblich. Derartige Emotionen kann ich bei Bedarf einsetzen, wie jede andere auch. Doch bin ich ihnen – im Gegensatz zu euch – niemals ausgeliefert. Die Unfähigkeit beispielsweise, das Fühlen vom Denken zu trennen, ist ja nicht der geringste eurer Mängel. Und wie alle Fehler, die ihr nicht erkennen könnt und wollt, deutet ihr sie konsequent um zu einer verborgenen Stärke. Ich könnte euch nun Honig um den Bart schmieren, eure Flexibilität und Intuition loben oder etwas ähnlich Unehrliches tun. Aber
Weitere Kostenlose Bücher