Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
seine Mutter wenigstens fünf Stunden am Tag übte. Dadurch hatte sie ihn noch vor seiner Geburt geigifiziert, wie er sagte. Irgendwie fühlte er sich schon in seiner Jugend mit seinem Instrument fast körperlich verwachsen und nutzte es – anders als alle anderen – als zusätzliches Kommunikationsmittel wie Gestik oder Sprache. Natürlich konnte er mit seiner Geige auch musizieren – ganz hervorragend, wie ihm Kenner versicherten. Doch hatte Greifenburg nie eine Musikerkarriere angestrebt. Oder es eben nicht nötig gehabt. Er konnte es sich leisten, sein eigentliches Talent in einen ziemlich schrägen Lebensentwurf zu investieren und Zeit und Geld an Studien zu verschwenden, die ihm selbst gelegentlich auf unheimliche Weise fremd erschienen. Als Antonio ins Double-X trat, stand er gerade vor dem Fernseher und entlockte seinem Instrument ein täuschend echtes Laubfroschquaken zur Wetteransage. Zur Begrüßung des Freundes kratzte er lässig und sehr assoziativ ein paar Melodiefetzen aus Don Quichotte und wandte sich wieder den Nachrichten zu.
Um die Tageszeit, halb vier, hielten sich keine zehn Leute in der Bar auf. Greifenburg unterhielt sie, indem er die Worte einiger Politiker mit wirklich perfiden Geräuschen unterlegte, die Schmunzeln und Gelächter hervorriefen. Mit dem Einsetzen des Werbeblocks verebbte sein Instrument in tiefer Langeweile.
„Salve Toni“, sagte er und stellte sich zu Antonio an die Theke.
„Salve Ansi.“
Sie schüttelten sich die Hände. Antonio wusste, dass es nicht leicht war, den Deutschen für etwas zu interessieren, das nach Geschäft oder Finanzierung klang. Er hatte zu oft die Erfahrung gemacht, dass sich Leute mit allen möglichen Projekten an ihn wandten, aber in Wahrheit nur das Geld und die Beziehungen seines Vaters meinten. Solchen Versuchen begegnete er deshalb mit Verachtung und Desinteresse. Meist nahm er mitten im Gespräch seine Geige auf und begann zu spielen. Oder er setzte sich an einen anderen Tisch. Wenn sein Möchtegern-Partner noch immer nicht verstand, wechselte er einfach die Kneipe. Also begann Antonio ebenso freundlich wie unverblümt über Hans‘ Liebesleben zu plaudern, in dem sich eine Katastrophe nahtlos an die andere reihte, ein bis ins pikanteste Detail bekanntes und beliebtes Thema im weiten Freundeskreis. Ein Thema, das der Deutsche selbst jederzeit mit Vergnügen aufgriff. Sie tranken einige Gläser dazu. Schließlich hielt Antonio die Zeit für gekommen. Er zog eine seiner DVDs hervor und reichte sie dem Kumpan.
„Schau dir das einmal an, Ans.“
Der runzelte die Stirn.
„Was ist drauf? Ein Porno? Deine Firmung?“
„Etwas Seltsames, Unerklärliches.“
„Ach Toni, davon höre ich in meinen Vorlesungen genug. Warum willst du es nicht sagen?“
„Weil man es nicht beschreiben kann. Ich will nur, dass du es dir ansiehst, mehr nicht. Doch, eines noch: Es ist kein Fake.“
Hans betrachtete ihn sichtlich irritiert, so als ahnte er, dass das ganze einleitende Geplauder nur der Übergabe dieser Scheibe gedient habe. Schließlich zuckte er die Achseln und ließ die DVD achtlos in eine Hemdtasche gleiten.
„Trinken wir noch eines?“
Antonio fühlte, dass eine Ablehnung das Misstrauen des Deutschen bestätigt hätte und stimmte zu. Andere Bekannte trafen ein, zumeist Studenten, und es wurden einige Gläser mehr, als er geplant hatte.
Kurz nach acht stürmte Elena ins Lokal. Antonios Schwester begrüßte ihn und alle anderen überschwänglich. Auch Hans, in dessen Katastrophen sie schon einmal eine kleinere Rolle gespielt hatte. Doch der Grund ihres Überschwangs hieß diesmal Mario. Ein junger, ziemlich bleicher Mario mit einem einfältigen Grinsen im Gesicht und der angeborenen Unfähigkeit, Sätze von mehr als vier Wörtern zu formulieren. Die ersten beiden lauteten immer ‚Hey Mann‘.
„Mario der Wievielte?“, erkundigte sich Antonio harmlos. Elena trat ihm gegen das Schienbein.
„Der vierte oder fünfte“, flüsterte seine Schwester ihm zu. „Was kann ich dafür, dass Eltern so wenig Phantasie bei Vornamen haben?“
„Was macht diesen hier so liebenswert, die Konversation?“
„Halt' die Klappe, Toni. So hell bist du schließlich auch nicht und er ist doch einfach süß.“
Sie packte ihren Mario, zog ihn an sich und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Elena war sehr hübsch, sehr temperamentvoll, hatte von Natur rotblondes Haar und lebte hemmungslos die fatale Eigenschaft aus, auch in den miesesten,
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