Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Gruppe heran, berührte leicht zwei der verschränkten Ellenbogen und machte wieder diesen Schlenker, genau wie vorhin mit dem Handy. Eine nach oben weisende Schliere der Drei-Mann-Statue verwirrte für einen Sekundenbruchteil Antonios Sehzentrum. Dann waren seine Entführer verschwunden. Der Fremde klatschte in die Hände wie ein Kind, dem ein besonders hübscher Streich gelungen ist.
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Mit enormer Geschwindigkeit schossen sie hoch, Adnan, Marik und Hassan durchbohrten halb bewusstlos eine einsame Wolke und rasten in den blitzblauen Himmel. Sie wussten, es war vorbei. Ihre Überraschung dehnte sich grenzenlos, der Tod kam gnädig und schnell. Außerhalb der Atmosphäre nahm ihre Geschwindigkeit stetig weiter zu - entgegen jedem physikalischen Gesetz auch ohne Antrieb. Nach gar nicht langer Zeit befanden sie sich weiter von Florenz entfernt als man es auf irgendeinem Punkt der Erde sein kann. Als tiefgefrorene Menschenrakete traten sie die Reise durch das Sonnensystem an. Wenn sie auf ihrem Weg nicht von irgendeinem Himmelskörper eingefangen würden, sähe ein Beobachter sie in wenigen Jahren sich im interstellaren Raum verlieren. Bis an das Ende aller Zeit.
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Wächter, Eintrag 731.432
Ich trete zu dem Langen in den Schuppen. Er sitzt in einem Stuhl und blutet aus der Nase. Er hat Angst. Sie haben so viel Angst, die Menschen. Ich ziehe ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber hervor. „Chiara“, schreibe ich mit der Handschrift des Langen. „Nimm den A-Grav und fahre nach Wien zu Vanetti. Ich bin jetzt in Sicherheit, kann Dich aber nicht treffen. Du hattest Recht. Es ist ernst, sehr ernst. Sie suchen auch nach Dir. Zögere nicht. In Liebe, Toni.“
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Antonio beobachtete, wie dieser mittelgroße, nicht besonders muskulöse Typ von vielleicht fünfzig Jahren zunächst ein Handy durch ein Blechdach, dann drei erwachsene Männer mit ungeheurer Geschwindigkeit in die Luft schleuderte. Sein erster Gedanke galt dem A-Grav. Doch von dem war nichts zu sehen. Der Typ wandte sich ihm zu und lächelte ihn wieder freundlich an. Mit warmen, braunen Augen in einem harmlosen Gesicht. Er trug sein dunkles, gewelltes Haar vielleicht etwas länger als es gerade der Mode entsprach, an den Schläfen kräuselte es sich. Er zog ein Blatt Papier hervor und beschrieb es frei stehend, ohne Unterlage. Antonio erkannte seine eigene Handschrift. Das konnte nicht sein, bestimmt litt er an Halluzinationen. Vielleicht hatten die Entführer ihm eine Droge eingegeben, vielleicht ein Gas. Unwillkürlich schnupperte er danach, roch aber nichts.
Der Fremde streifte mit dem Blatt kurz über sein Gesicht.
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Wächter, Eintrag 731.433
Ich schmiere ein bisschen vom Blut des Langen auf das Papier. Blut ist wunderbar magisch und dramatisch, sie würden ihm nicht widerstehen. Er starrt mich die ganze Zeit an, wobei sein Mund leicht geöffnet ist. Wie ein intelligentes Wesen sieht er wirklich nicht aus. Doch er hat bestimmt, dass diesem Burschen nichts passieren soll. Auch sein Geist soll geschont werden, was ich gut verstehe, da es sich um ein äußerst knappes Gut zu handeln scheint. Ich nehme ihn in meine Obhut.
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Antonio merkte, dass der Fremde hinter ihn trat. Dann spürte er Finger von seinen Schläfen nach hinten streichen und versank in einem endlos verschachtelten Traum. Er träumte, dass er träumte, dass er träumte und immerfort so weiter wie in einem Kabinett mit Tausenden von Spiegeln, in dem die kleinste Bewegung zu einem lawinenhaften Sturm anschwillt, der beim Innehalten so plötzlich stoppt, als hätte es ihn nie gegeben. Er sah sich gleichzeitig in allen Stadien seines Lebens, mit seinen Eltern auf dem Gut, das er liebte, mit Chiara, die er liebte, ohne es ihr je gesagt zu haben, mit Elena und Maria und Legionen von Tanten, Onkels, Cousins und Cousinen, Schulkameraden, Spielgefährten, Freunden und Freundinnen. Er tanzte in diesen riesigen Wirbel hinein, tanzte und vergaß dabei alles, was er vergessen sollte – und noch einiges dazu.
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Wächter, Eintrag 731.434
Ich weiß nicht, zu welchem Zweck er jetzt ein Individuum sucht – oder es längst gefunden hat und nun auf einen Weg der Prüfungen führt. Das ist eher ungewöhnlich, üblicherweise bin ich gut informiert, doch sind die Aufgaben zwischen uns klar verteilt und ich zweifle seine Autorität nie an. Es dürfte um etwas Besonderes gehen, denn so aktiv eingebracht hat er sich selbst noch nie. Und ich habe noch nie so viele Aufträge erhalten.
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