Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
Ruhe.“
Ihre temperamentvolle Freundin holte sofort tief Luft für die nächste Salve. Chiara legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen.
„Bitte.“
Sie hatte dabei diesen Gesichtsausdruck, der auf Elena immer schon ungeheuer überzeugend gewirkt hatte. Der Rotschopf atmete tief durch, setzte sich und las wieder und wieder Antonios Zeilen, die in Wahrheit gar nicht von Antonio stammten. Chiara eilte auf ihren Ausguck. Diesmal hoffte sie sehr darauf, den geheimnisvollen Mann gemütlich auf der Bank warten zu sehen. Aber da saß niemand. Sie setzte sich vor ihr Notebook und schickte eine E-Mail an Vanetti. Das hätte sie schon längst tun sollen. Sie besaß nur die Adresse seines Instituts und heute war Samstag. Leicht möglich, dass er seine Mails erst am Montag wieder abrief. Sie wählte die Nummer seiner Wohnung. Niemand meldete sich, nicht einmal ein Anrufbeantworter. Sollte sie Tonis Aufforderung folgen? Wie gelangte sie am besten nach Wien? Nicht mit dem Flugzeug, das lag auf der Hand. Sie hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie sie den A-Grav durch einen Sicherheits-Check bekommen sollte. Ein Auto besaß sie nicht. An einem der ersten schönen Frühlingswochenenden eines von einem Freund zu leihen, wäre nicht ganz einfach. Nein, sogar unmöglich. Sie ging zur Fahrplanauskunft und rief die Zugsverbindungen ab. Eine einzige gab es. Abfahrt in 30 Minuten. Chiara sprang auf, lief zu ihrem großen Kasten und holte zwei Taschen heraus. In die größere warf sie etwas Wäsche und einige Utensilien aus dem Bad. Elena starrte sie an, sprachlos.
„Komm!“ rief Chiara ihr zu. „Ich muss zum Bahnhof.“
Fünf Minuten später saßen sie in einem Taxi. Elena wollte ihre Freundin mit Fragen bestürmen, doch die flüsterte nur: „Nicht hier! Der Fahrer.“
Wenige Minuten vor der Planabfahrt des Zuges liefen sie durch die Halle.
„Kauf‘ mir eine Karte nach Wien“, keuchte Chiara und drückte Elena ihre Geldtasche in die Hand. „Ich muss noch zu den Schließfächern.“
Fieberhaft suchte sie in den langen Reihen nach der passenden Nummer. Die Sekunden prasselten und zerstoben wie ein Feuerwerk im Nebel, die Zeit verflog immer schneller. Endlich fand sie das richtige Türchen. Antonios Schlüssel sperrte. Sie nahm den A-Grav samt dem Einkaufsbeutel, in den Toni ihn gesteckt hatte und stopfte ihn in ihre zweite Umhängetasche. Dann lief sie zum Bahnsteig. Elena blockierte den Zug, indem sie eine Tür offen hielt, die der Schaffner bereits schließen wollte. Er schimpfte wie ein Rohrspatz und sie schimpfte zurück. Chiara rief ein lautes „Danke!“ und schlüpfte durch die Tür. Sekunden später ging ein Ruck durch den Zug. Er fuhr ab. Noch ganz außer Atem packte sie einen Haltegriff, um ihr Gleichgewicht zu wahren. Die Anspannung der letzten halben Stunde begann abzuebben. Da klopfte ihr jemand kräftig auf die Schulter. Chiara wäre vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren. Sie fuhr herum und blickte in das breite Grinsen ihrer Freundin.
„Keine Eile, Chi. Du kannst dich in aller Ruhe bei mir bedanken, tu‘ dir nur keinen Zwang an.“
Der Schaffner stand hinter Elena und schnaufte immer noch vor Empörung. Er war gerade fünfundzwanzig und legte großen Wert darauf, dass man die Autorität, die seine Uniform verkörperte, auch entsprechend beachtete. Elena wandte sich um, strahlte ihn an und drückte ihre Lippen für Sekunden auf die seinen.
„Es war wirklich ungeheuer wichtig“, sagte sie. „Vielen Dank für deine Hilfe! Wenn du noch ein leeres Abteil findest für mich und meine Freundin ...“
Er verwandelte sich augenblicklich in einen entzückten Vasallen.
„Ja, gewiss.“
„Was willst denn du hier im Zug?“ fragte Chiara, der Verzweiflung nahe.
„Ich habe zwei Karten gekauft“, erwiderte Elena unbeeindruckt. „Mit deinem Geld. Und wenn unser Freund ein Abteil gefunden hat, wirst du mir alles erzählen, so wie du es versprochen hast.“
Chiara wusste, wann sie geschlagen war. Sie folgten dem Schaffner, der sie beflissen in ein leeres Abteil winkte.
50___
Die Eingangshalle des Westin Excelsior erinnerte mit ihren Säulen an einen kleinen Petersdom für reiche Herbergssuchende. In einer Stadt, in der sich einst die Fleischhauer für ihre Vertreibung vom Ponte Vecchio rächten, indem sie ihre Geschäfte mit dem Marmor schmückten, der dem Vatikan vorbehalten war, mochte durchaus Absicht dahinter stecken.
Lynx betrat das Gebäude durch einen Eingang an der vom Arno abgewandten Seite,
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