Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
überschwänglich.
41___
Früh am nächsten Morgen. Die Sonne ruhte noch auf dem hügelgesäumten Horizont, ihre Strahlen reichten noch nicht bis auf die brüchige Asphaltdecke der schmalen Straße herab, die zwischen zwei Meter hohen Mauern die frühlingsgrüne Oase südlich des Arno durchschnitt. Verkehr gab es hier beinahe keinen. Niemandem fiel der Mann im eleganten hellen Mantel auf, der zügig voranschritt und dabei leise vor sich hin pfiff. Die Mauern aus grauem Naturstein verhinderten jeden Blick auf die umliegende Gartenlandschaft. Sensible Spaziergänger empfanden in dem langgezogenen, künstlichen Graben, der keinerlei Ausweichmöglichkeit bot, schon einmal klaustrophobische Gefühle. Nicht so dieser Mann. Er hatte alle Arten von Gefühlen fest im Griff. Plötzlich blieb er stehen und hob sein Gesicht, als ob er etwas witterte, vielleicht den Duft frischer Croissants? Doch hier gab es in weitem Umkreis keine Croissants. Jenseits der Mauer zu seiner Rechten ragte eine alte Zeder hoch in den Himmel. Ihre Zweige reichten bis über die Mauerkrone. Der Mann überzeugte sich mit einem raschen Blick, dass niemand ihn beobachtete, dann sprang er aus dem Stand anscheinend mühelos mehr als zwei Meter hoch und verschwand augenblicklich zwischen den Ästen des Baumes.
42___
Die drei Schläfer blickten auf eine schlaflose Nacht voll bitteren Streits zurück. Hassan, der Gärtner, hatte Antonio den Lappen mit dem Betäubungsmittel viel zu lange vors Gesicht gedrückt. Als sie ihr Versteck erreichten, lag der Italiener in tiefer Bewusstlosigkeit, sein Puls schlug so schwach, dass sie ihn bereits für tot hielten. Marik, der älteste, hielt die in Panik geratenen Jüngeren von Wiederbelebungsversuchen ab, die ihr Opfer bestimmt nicht überstanden hätte. Sie machten einander Vorwürfe und warteten. In dem Gartenschuppen, den Hassan vorgeschlagen hatte, weil er wusste, dass sich um diese Jahreszeit niemand hierher verirrte, wurde es kalt. Marik fand einen Haufen alter Jutesäcke, in die er den Bewusstlosen wickelte. Irgendwann nach Mitternacht stellte er fest, dass Antonios Puls an Kraft gewann und die Totenblässe langsam, wie ein Nebelschleier, zurückwich. Aber erst mit der aufgehenden Sonne verriet sein gleichmäßiger Atem, dass die Bewusstlosigkeit tiefem Schlaf wich. Zuletzt sprachen die drei Kidnapper nicht mehr miteinander, doch Ruhe fand keiner von ihnen. Adnan war die halbe Nacht stumm vor dem Schuppen auf und ab gegangen. Er betrachtete Antonio im erstarkenden Tageslicht und zischte: „Es ist so weit. Wir müssen uns beeilen.“
Sie zogen wieder die schwarzen Strümpfe über den Kopf und begannen, ihren Gefangenen mit Rütteln, leichten Ohrfeigen und kaltem Wasser zu wecken. Es dauerte einige Minuten. Antonio blutete aus der Nase. Er schmeckte das Blut und schlug die Augen auf. Sie setzten ihn auf einen Gartenstuhl. Er blinzelte durch ein Fenster in die Morgensonne. Drei maskierte Männer verdunkelten sie. Ihm war übel. Einer der Männer hielt ihm eine CD vors Gesicht und fragte in höchster Erregung: „Was ist da drauf, du Schwein?“ Dabei stieß er ihn hart gegen die Brust.
Eine ruhigere Stimme sagte: „Wie soll er das denn wissen, du Idiot?“
Zu Antonio: „Das Video mit den fliegenden Sachen, dem Auto, der Walze. Wie hast du das gemacht?“
Tiefes Leid fraß sich in Antonios Herz. Er hatte die Scheibe drei Menschen gegeben, denen er vertraute. Zweien, um genau zu sein. Einen kannte er ja nicht einmal. Wie auch immer! Chiaras Warnung klang ihm noch in den Ohren. Und er hatte es wieder falsch gemacht, wie stets. Tränen sammelten sich in seinen Augen, er hasste sich dafür.
„Ich weiß nichts“, stammelte er.
Der linke Maskierte, es war Adnan, rastete aus. Er stieß Marik zur Seite und trat mehrmals wütend gegen Antonios Schienbeine.
„Du erzählst jetzt alles, alles, verstehst du?“
Er keuchte vor Ärger über die verkorkste Nacht und ließ seine Wut an Antonio aus.
„Alles!“ brüllte er. „Oder ich breche dir jeden einzelnen Knochen.“
Er gebärdete sich wie von Sinnen, wollte gar nichts hören, nur treten und schlagen. Die eigenen Komplizen zerrten ihn mit Gewalt zurück und versuchten, ihn zu beruhigen.
Marik begann, gezielte Fragen zu stellen. Antonio spürte den Schmerz, wo Adnan ihn getroffen hatte, doch nicht deshalb redete er. Er erzählte, weil er todunglücklich und ihm ohnehin alles egal war. Vom Keller, vom A-Grav, von Vanetti, vom Schlüssel. Nur Chiaras Namen
Weitere Kostenlose Bücher