Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
unaufhörlich Fragen stellte und ein ums andere Mal ihre Überraschung, ihren Unglauben oder ihr Unverständnis zum Ausdruck brachte.
„Toni würde niemals einen Keller ausmessen!“
„Hat er aber getan.“
„Marias Kammer ist doch ein Märchen!“
„Das dachte ich auch - bis wir sie gefunden haben!“
„Er hat mit einem leuchtenden Alteisen Kästen aufgehoben?“
„Allerdings.“
„Weißt du“, sinnierte Elena, die offenkundig kein Wort von Chiaras Geschichte glaubte, „wenn du nicht der vernünftigste Mensch auf der Welt wärst, würde ich sagen, du hast drei Tage pausenlos Party gefeiert und dir zum Abschluss einen LSD-Trip gegönnt. Bei Antonio würde es mich nicht überraschen, aber du? Was hat der blutige Brief zu bedeuten?“
„Das weiß ich auch nicht“, musste ihre Freundin zugeben.
Elena hob die sorgfältig gezupften Augenbrauen bis sie fast aus ihrem Gesicht verschwanden.
„Und deswegen sitzen wir in einem Zug nach Wien? Zu einem Mann, den du nicht kennst?“
Sie verdrehte sehr ausdrucksstark ihre Augen.
„Ich fasse es nicht!“
Worte halfen hier nicht weiter. Chiara zog die Vorhänge zum Gang zu und bedeutete ihrer Freundin, die Schiebetür festzuhalten. Für den Fall, dass jemand ihr Abteil betrat, würden Sekunden reichen, um den A-Grav in der Tasche verschwinden zu lassen. Als sie das Metall berührte, fühlte sie eine Verbindung, die ihr viel stärker schien als beim ersten Mal. Sie hatte den seltsamen Eindruck, dass auch das Gerät die Berührung mochte. Wieder: Als ob sie sich gut verstünden! Die winzigen geometrischen Flächen pulsierten sanft in warmen Orange- und Gelbtönen. Sie benötigte auch keinerlei Kraftaufwand, um die Griffe auseinander zu bewegen und das Display erscheinen zu lassen. Chiara erinnerte sich daran, wie konzentriert Antonio den A-Grav handhaben musste, um die erfassten Gegenstände nicht gegen Decke oder Boden krachen zu lassen, während sie mit spielerischer Leichtigkeit und Sicherheit Elenas Handtasche durch das Abteil tanzen ließ, von einem Gepäcknetz zum anderen, von Sitz zu Sitz, auf die Ablage beim Fenster und am Ende mit dem Trageriemen direkt auf Elenas Schulter. Die Augenbrauen ihrer Freundin bildeten erneut hohe Bögen des Erstaunens, doch Elena hatte noch nie ein Problem damit gehabt, an das zu glauben, was sie sah – zuletzt lachte sie vor Vergnügen. Chiara beneidete sie darum, so wie man Menschen beneidet, die sich an etwas erfreuen können, ohne es zu hinterfragen. Das ist wie naive Religiosität oder wahre Liebe, dachte sie, unendlich weit entfernt von Theologie und Kirche, aber echt. Die unvereinbaren Gegensätze der Menschheitsgeschichte: Liebe und Ideologie, Liebe und Macht, Liebe und Neid. Plötzlich lachte auch Chiara. Nicht nur der A-Grav mochte den Kontakt mit ihr, umgekehrt verhielt es sich genauso. Plötzlich bildeten sie ein Team. Als Elena die Hand nach ihm ausstreckte, voll Neugier und Spieltrieb, gab sie ihn weiter. Dann passierte etwas, das sie wütend machte. Sowie die Freundin den A-Grav hielt, verschloss er sich und die Lichter erloschen. Elena nahm es gelassen.
„Man braucht zu allem eine Beziehung. Mein zweiter verstand sich mit seinem Motorrad viel besser als mit mir. Es wäre für alle von Vorteil gewesen, wenn er die Moto Guzzi geheiratet hätte. Aber für so was ist unsere Bürokratie ja zu blöd. Und dieses Ding ist eben verknallt in dich. Ich nehme es ihm nicht übel. Immerhin kann es etwas. Im Unterschied zu Mr. Guzzi. In den ersten Wochen habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass er mich einmal so ansehen und streicheln würde wie seine Maschine. Aber für mich blieb immer nur ein Abklatsch.“
Sie streifte die Pumps ab, legte ihre Füße auf den Sitz gegenüber und steckte sich vollkommen entspannt im Nichtraucherabteil eine Zigarette an. Ohne den geringsten Gedanken daran zu verlieren, zitierte sie damit eine Reihe weiterer unvereinbarer Gegensätze der Menschheitsgeschichte: Freiheit und Bevormundung, Freiheit und Bürokratie, Freiheit und Ideologie.
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Wien
Dr. Ernst Vanetti war Astrophysiker von Beruf und aus Berufung. Er arbeitete an internationalen Programmen zur Entdeckung von Exoplaneten. Planeten in anderen Sonnensystemen. Vor ihm lagen Papierstapel mit langen Datenreihen, er hielt einen roten Marker in der Hand, mit dem er genervt zackige Muster auf einen Schreibblock zeichnete. Zwischen linke Wange und Schulter hatte er sein Handy geklemmt. Hin und wieder – aber nicht oft
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