Chiffren im Schnee
hätte die Ruhe vor dem Sturm gerne etwas länger ausgekostet, aber Cecil war wohl dabei, der ganzen Geschichte das unerwartete Element zu liefern, mit dem man immer rechnen musste. «Also gut, dann hab die Güte, mir diese Sichtweise zu erläutern.»
Cecil Seymour war ein Mann, der sich gerne selbst reden hörte. Er holte weit aus, um in unnötigem Detailreichtum zu erläutern, wie die Operation Splendid zustande gekommen war und welch bedeutenden Anteil er selbst daran gehabt hatte. Er war immer noch am Reden, als der Kellner mit einem zweiten Frühstück zurückkam.
«Natürlich hat niemand damit gerechnet, dass du inzwischen deine eigenen verrückten Pläne entwickelst und dich dabei auch noch mit dem Personal einlässt. Ist dir eigentlich bewusst, dass diese Person dich nur ausnutzt? Zu was für Zwecken auch immer.»
«Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du deine Meinung zu Miss Staufer für dich behalten und endlich zum Punkt kommen könntest.»
«Warum die Eile? Hast du heute vielleicht noch etwas vor?»
«Ich möchte mich einfach gerne meinen Übersetzungen widmen, das ist alles.»
Cecil griff ungeduldig nach der Serviette, die der Kellner eben platzieren wollte, und legte sie sich auf den Schoss. Dann begann er, umständlich nach etwas in seiner Weste zu suchen.
«Verzeih, wenn ich diesbezüglich meine Zweifel habe. Die hat Georgiana übrigens auch, sie macht sich Sorgen, dass du heute irgendetwas Unbedachtes tun könntest.» Cecil schien endlich gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte, aber der Gegenstand steckte wohl fest. Seine Bemühungen, möglichst unverfänglich eine Waffe aus einem offensichtlich improvisierten Holster zu ziehen, hatten etwas Komisches. Christian hoffte allerdings, er würde sich nicht aus Versehen selbst erschiessen – oder ihn oder den Kellner treffen.
Endlich gelang die komplizierte Operation, und Cecil hantierte nun verstohlen mit der Waffe unter dem Tisch. «Ich muss sagen, ich teile Georgianas Sorge – allerdings noch aus anderen Gründen. Inzwischen mache ich mir nämlich ernsthafte Gedanken, ob du noch weisst, wem deine Loyalität zu gelten hat. Du scheinst hier jegliches Pflichtgefühl gegenüber dir selbst, deiner Familie und deinem Land vergessen zu haben. Ich werde dich heute nicht aus den Augen lassen, und ich hoffe sehr, dass du mich nicht zwingst, hiervon Gebrauch zu machen. Das wäre mehr als bedauerlich. Aber glaub mir, wenn es sein muss, werde ich keine Sekunde zögern.» Er platzierte einen schweren, in die Serviette gehüllten Gegenstand auf dem Tisch. «Schon bevor ich anreiste, hatte ich meine Zweifel, doch als ich sah, mit was für Gesellschaft du dich hier umgibst, war ich mir sicher, dass man dir nicht mehr trauen kann. Ich vermute, die Chiffre befindet sich längst in deinem Besitz. Ich weiss nicht, ob das Morphium deinen Geist nachhaltig geschwächt hat oder woran es liegt, denn die Dame – und ich gebrauche den Begriff nur unter Vorbehalt – ist nun wirklich keinen Verrat wert. Es ist bedauerlich, aber …»
Dem Kellner, der dabei war, den Tee zu servieren, entglitt die Kanne. Dunkle Tropfen breiteten sich auf dem Tischtuch aus. Deutsche und englische Entschuldigungen murmelnd, beugte er sich über den Tisch und tupfte die Flüssigkeit auf. Auf einmal war seine Hand auf Cecils Serviette, und mit einer flinken Bewegung beförderte er diese samt Inhalt über den Tisch.
Christian, der ihn genau beobachtet hatte, griff sofort zu. Er hatte die Waffe bereits in der Hand, bevor Cecil überhaupt begriffen hatte, was geschehen war.
«Sie sind Henning, nicht wahr? Sie waren am Morgen des Einbruchs auch hier.» Christian hielt die Webley auf Cecil gerichtet. Der Barkeeper trat vorsichtig einen Schritt zur Seite und nickte. Eine unnötige Vorsichtsmassnahme, Christian hielt die Waffe so locker, dass die Handballensicherung nicht entriegelt wurde. «Ich danke Ihnen für Ihr beherztes Eingreifen. Gibt es dafür vielleicht einen bestimmten Grund?»
«Fräulein Staufer – sie sagte, ich sollte in Ihrer Nähe bleiben und Ihnen helfen, falls das nötig sein sollte. Deshalb habe ich heute Friedrichs Posten übernommen. Fräulein Staufer sagte auch, dass ich auf ihn», er machte eine Kopfbewegung in Richtung Cecil, «nicht aufzupassen brauche.»
Diese Antwort überraschte Christian nicht weiter. «Wie üblich erweist sich Miss Staufer als ausserordentlich vorausschauend.»
Er wandte sich wieder Cecil zu. «Und das, obwohl sie nicht die Vorzüge
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