Chiffren im Schnee
Hände an einem Geschirrtuch ab und eilte zu Anna.
Sie zog ihn hinter einen der Weihnachtsbäume im Gang. «Henning, ich brauche Ihre Hilfe – ich kann Ihnen jetzt leider nicht alles erklären, Sie müssen mir einfach vertrauen.»
Er legte den Kopf schief und betrachtete sie nachdenklich. «Also gut, was soll ich denn tun?»
«Haben Sie morgen früh ein Auge auf Lieutenant Wyndham. Ich glaube, er hat etwas vor, während Lady Georgiana und ich auf Josts Beerdigung sind.»
Henning versuchte, leise zu pfeifen, was ihm mit seiner aufgeplatzten Lippe nicht gelang. «Sieh an, sieh an. Und was ist mit diesem anderen Engländer, der gestern eingetroffen ist? Sieht aus, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Angeblich soll er mit Lady Georgiana verlobt sein. Ich frage mich ja, was die Lady sich dabei gedacht hat. Muss ich auf den Herrn auch achtgeben?»
«Mister Seymour soll gefälligst auf sich selbst aufpassen», brummte Anna und fügte dann hastig hinzu: «Sie können Ihre Augen ja nicht überall haben.»
Doch er kannte sie zu gut und grinste. «In Ordnung, ich habe verstanden, wer der Stauffacherin am Herzen liegt. Und so liegt er auch mir am Herzen.»
Sosehr sie seine bedingungslose Unerstützung freute, musste sie doch ehrlich sein. Henning mochte den Oberleutnant verabscheuen und seine Heimat trotzdem lieben. «Henning, ich weiss nicht, wie ich das sagen soll. Vielleicht tut Lieutenant Wyndham etwas, das dem Auftrag von Oberleutnant Ranke zuwiderläuft.»
«Pah – Kaiser und Vaterland können mir gestohlen bleiben. Hauptsache, Ihr Lieutenant Wyndham legt jenen das Handwerk, die Jost getötet haben. Und wenn die Herren Offiziere dabei auch ein paar Schrammen abbekommen, so soll es mir nur recht sein.»
Fundsachen
«Man muss nicht alle Wäsche auf dem Markte ausbreiten.»
Deutsches Sprichwörter-Lexikon – 1876
Es war eisig kalt auf dem Perron des Sternenbacher Bahnhofs. Der Atem der Wartenden stieg in kleinen Wolken auf. Anna hatte nicht gut geschlafen. Sie war mitten in der Nacht aus einem Traum aufgewacht, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte, aber sie war überzeugt, dass sie der Antwort, der sie alle nachjagten, sehr nahe gewesen war. Sie hatte versucht, wieder einzuschlafen und weiterzuträumen, doch natürlich war ihr keines von beidem gelungen. Nun sorgte sie sich wegen Lady Georgianas Garderobe, eine allzu elegante Erscheinung würde unangenehm auffallen.
Die Türmchen des Grand Palace hoben sich dunkel vor dem strahlend eisig blauen Morgenhimmel ab. Es würde ein schöner Tag werden. Langsam wuchs das Grüppchen an, das zur Beerdigung nach Obwil fahren wollte.
Lady Georgianas schlanke Gestalt tauchte unter den Bäumen der Allee auf, die vor dem Grand Palace endete. Sie hastete über die Strasse, betrat den Bahnhof und durchquerte die Halle mit eiligen Schritten. Das Erscheinen der Lady sorgte für einige Unruhe. Niemand hatte erwartet, dass jemand der «besseren Herrschaften» auftauchen würde. Erleichtert registrierte Anna den schwarzen Rock, Mantel und Hut – sie hatte nicht geglaubt, dass sich derart schlichte Stücke in Lady Georgianas Garderobe finden würden.
«Guten Morgen, Miss Staufer. Ich hoffe, das geht so.» Lady Georgiana rückte den Hut, den eine breite schwarze Samtschleife schmückte, zurecht. «Zum Glück hat Paget in etwa die gleiche Grösse wie ich. Es war allerdings ein rechter Kampf, sie davon zu überzeugen, dass ich so aus dem Haus kann.»
Die knapp einstündige Fahrt nach Obwil verbrachten sie schweigend, alle in Gedanken versunken. Anna beobachtete ihre Reisegefährtin verstohlen. Auf den ersten Blick mochte Mrs Havers richtigliegen. Lady Georgiana wollte wohl den Konventionen ihres Standes genügen und damit den Beweis erbringen, dass sie – ausser ihrem Aussehen – nichts von ihrer Mutter geerbt hatte. Doch gleichzeitig scheute sie sich nicht, Konventionen und Regeln zu brechen. Dass sie alleine, nur von einer Zofe begleitet, auf den Kontinent reiste, entsprach keinesfalls der herrschenden Etikette. Vor strengerem Tadel schützten die Lady nur ihr Titel und ihr Alter – sie war kein Backfisch mehr. Anna fragte sich, wie lange Lady Georgiana und Mister Seymour wohl schon verlobt waren.
Obwil lag nicht direkt an der Bahnstrecke, man musste noch ein gutes Stück bergauf gehen. Noch hatte die niedrige Wintersonne den Talgrund, wo die Bahnlinie verlief, nicht erreicht. Obwil hingegen lag bereits im Sonnenlicht. Als Anna Lady Georgiana das Dorf
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