Chiffren im Schnee
zeigte, verfing sich ein einzelner Strahl in der Kuppel des Kirchturms und blitzte für einen Moment wie ein Leuchtturm auf.
Der vom Schnee freigeräumte Fahrweg führte durch ein Waldstück und war nicht allzu beschwerlich, trotzdem dauerte es eine gute Viertelstunde, bis sie das Dorf erreicht hatten. Die Kirche lag auf einer Anhöhe über den Häusern, ein steiler Pfad führte am Friedhof vorbei dorthin.
Die kleine Kirche hatte ungewöhnliche hohe Fenster, sodass das Licht des Wintertages in den Raum flutete. Anna nahm mit Lady Georgiana in einer der hinteren Kirchenbänke Platz. Lady Georgiana gab sich alle nur erdenklich Mühe, nicht aufzufallen, und es gelang ihr auch fast. Nur hier und da wurden verstohlene Blicke in ihre Richtung geworfen und leise getuschelt.
Anna versuchte, dem Gottesdienst zu folgen und sich von Jost zu verabschieden, doch ihre Gedanken schweiften ständig ab, so als könnten sie es nicht wagen, sich dem Schmerz zu nähern. Sie wollte nicht an Jost denken; wie er ihre Anweisungen niederkritzelte; wie er ihr auf der Treppe strahlend erklärte, dass er «Ammann» gerufen wurde; wie er einen regelrechten Strauss mit Frau Lanz ausgefochten, weil sie dem Lieutenant Tee statt Kaffee zubereitet hatte. Und schon gar nicht wollte sie an den dunklen Dachboden des Splendid denken.
Ihr Blick blieb an der kleinen, dunkelgrün gestrichenen Kanzel hängen, die mit geschnitzten und vergoldeten Tressen und Quasten geschmückt war. Und auf einmal erinnerte sie sich – sie wusste jetzt, was es war, das ihr in der vergangenen Nacht entflohen war.
Sie senkte den Kopf. Statt über die plötzliche Erkenntnis aufgeregt zu sein, erfüllte sie Ruhe. Nun war es gut, und sie konnte Abschied nehmen und weinen und danach dieser Geschichte ein Ende bereiten.
Christian war früh aufgestanden und hatte sich an ein Fenster gesetzt, um das Kommen des Tages zu beobachten. Er hatte alles vorbereitet. Nun ging es nur noch darum, den ersten Zug zu machen, Geduld zu haben und immer auch mit dem Unerwarteten zu rechnen. Während die bleiche Sonne langsam den Himmel eroberte und die Landschaft mit weiss-silbernem Licht überzog, spürte er die alte, wohlvertraute Anspannung – das Schwanken zwischen Furcht und Jagdfieber. Es fiel ihm schwer, sich das einzugestehen, aber ein Teil von ihm – ein Teil, den er vielleicht nicht sehr mochte – hatte dieses Gefühl vermisst.
Er erhob sich und begann mit der mühsamen Prozedur des Ankleidens. Zweifelsohne würde er am Abend für diesen Tag bezahlen. Vielleicht würde er sogar Miss Staufer um jene Hilfe bitten müssen, die er auf keinen Fall in Anspruch nehmen wollte. Das wäre dann wohl seine Busse dafür, dass er sich – wenn auch nur für einen kurzen Moment – nach seinem alten Leben zurückgesehnt hatte.
Es klopfte, das Frühstück war da. Allerdings wurde es nicht von dem Etagenportier serviert, den Herr Ganz ihm anstelle von Jost zur Verfügung gestellt hatte. Der Mann, der mehr Übung im Servieren zu haben schien, sagte: «Guten Morgen, Sir. Ich habe Friedrichs Schicht übernommen, damit er zur Beerdigung kann.»
Christian hätte dem Mann gerne noch einige Fragen gestellt, doch da klopfte es schon wieder – es war Cecil Seymour.
«Guten Morgen, Christian. Ich habe beschlossen, dir beim Frühstück Gesellschaft zu leisten. Georgiana musste ja bereits in aller Frühe aus dem Haus, um am Beerdigungsgottesdienst dieses Burschen teilzunehmen. Warum ihr beide so etwas für nötig haltet, übersteigt allerdings mein Vorstellungsvermögen.»
Christian bemerkte die Wölbung an Cecils linker Seite und seufzte. «Das glaube ich gerne. Und der Bursche hatte einen Namen. Es wäre schön, wenn du ihn dir merken könntest.»
«Es scheint mir, dass ihr euch in unnötigen Sentimentalitäten verheddert – ein geschmackvolles Gebinde, sofern es so etwas hier gibt, hätte es auch getan.» Cecil setzte sich unaufgefordert hin und fuhr den Kellner an: «Nun, was stehen Sie hier herum? Besorgen Sie mir ein Frühstück! Und zwar ein richtiges mit Tee!»
Der Mann verbeugte sich und murmelte: «Sehr wohl, mein Herr.»
«Das Personal in diesem Haus ist wirklich unmöglich. Zuerst diese Gouvernante, die ihren Platz nicht kennt, und nun noch ein Kellner, der sich anscheinend geprügelt hat.»
Christian ging darauf nicht ein. «Was willst du hier, Cecil?»
«Ich wollte diese Gelegenheit ergreifen, dir meine Sichtweise der Dinge nochmals ungestört zu erläutern.»
Christian
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