Chiffren im Schnee
zu überwachen, das in derselben Etage wie Lieutenant Wyndham Räume bezog. Etwas erstaunt sah sie Konsul Deveraux und Mister Derringer aus der Kleinen Suite kommen.
Anna hatte keine Zeit, diesem Rätsel weiter nachzugehen. Nachdem die recht anspruchsvollen Basler Herrschaften endlich zufriedengestellt waren, musste sie noch mit dem Maître d’hôtel die Vorbereitungen für die Neujahrsfeier im Ballsaal besprechen.
Lady Georgiana empfing Anna am Abend mit besorgter Miene. «Ich weiss nicht, was los ist, aber ich glaube, Christian hat etwas vor. Dieser Plan, einfach abzuwarten, bis jemand in die Remise schleicht, passt so gar nicht zu ihm. Ich werde das Gefühl nicht los, er will selbst die Initiative ergreifen, und zwar dann, wenn wir beiden zerbrechlichen Geschöpfe ausser Haus und damit ausser Gefahr sind. Dass ihm selbst etwas zustossen könnte, ist für ihn natürlich unerheblich. Es geht ihm nicht besonders gut, das kann ich sehen, auch wenn er sich alle Mühe gibt, es zu verbergen.» Sie seufzte und griff nach einem Paar silberfarbener Abendhandschuhe. «Nun denn, wir müssen uns einfach darauf verlassen, dass Cecil ein Auge auf ihn hat und ihn von irgendwelchen gefährlichen Abenteuern abhält.»
Anna hatte die Gesellschaft Mister Seymours nur kurz genossen, aber es hatte ausgereicht, um ernsthafte Zweifel an seiner Kompetenz zu haben. Die Vorstellung, dass er Lieutenant Wyndham überwachen und womöglich kontrollieren sollte, war lachhaft – sie starrte fassungslos in den Spiegel. Paget musste wohl ähnliche Gedanken hegen, sie quittierte die Worte ihrer Herrin mit einer leicht erhobenen Augenbraue. Lady Georgiana schien nichts von all dem zu bemerken, sie strich sich die langen Stulpen ihrer Handschuhe glatt. Anscheinend war sie wild entschlossen, gewissen Dingen einfach nicht ins Auge zu sehen.
Anna erkundigte sich vorsichtig: «Wird Mister Seymour denn morgen nicht weiteren Ski-Unterricht nehmen?»
«Nein, Skifahren hat ihm nicht zugesagt. Er wird es mit Eislaufen versuchen. Das ist gut so, denn dann bleibt er in der Nähe des Hotels.»
Da war wohl nichts zu machen. Lady Georgiana erhob sich und trat vor den grossen Spiegel, um den Faltenwurf ihres Kleides zu kontrollieren. Es war eine Kreation aus rotem Samt mit komplizierten Raffungen auf Hüfthöhe – es war das erste Mal, dass Anna ein Stück aus Lady Georgianas Garderobe nicht gefiel.
«Ich weiss nicht recht», meinte Lady Georgiana zu Paget, «aber Mister Seymour liebt es, wenn ich Rot trage.»
Paget reichte ihr die Handtasche, und Lady Georgiana warf einen kurzen Blick hinein. «Und natürlich mag er es nicht, wenn ich rauche.» Sie holte Zigarettenhalter und Zigarettenetui heraus und reichte beides Paget. Dann wandte sie sich Anna zu: «Wenn ich das recht verstanden habe, müssen wir morgen früh aufbrechen. Ich möchte nicht, dass Sie sich meinetwegen Umstände machen, wir treffen uns dann am Bahnhof. Das wäre dann alles, Miss Staufer.»
Im Gang blieb Anna einen Moment stehen und dachte nach. Sie war beunruhigt. Was genau hatte der Lieutenant vor? Dass Lady Georgiana richtiglag, bezweifelte Anna nicht. Aber anders als Lady Georgiana mochte sie sich keinesfalls auf Mister Seymour verlassen.
Sie ging zur Bar, wo Mister Derringer und der Konsul in angeregtem Gespräch weilten. In Anbetracht von Lady Georgianas Worten erschien Anna der Besuch der beiden Herren in der Kleinen Suite auf einmal recht ominös. Zumindest war von den Herren Offizieren nichts zu sehen, vielleicht hatte sie ja ein Schneebrett unter sich begraben. Anna erschrak ein wenig über sich selbst und hoffte, dass es nur die Müdigkeit war, die solche Gedanken aufkommen liess.
Henning hatte sie inzwischen am Eingang stehen sehen. Er machte ihr ein Zeichen, einen Moment zu warten, und widmete sich einem, wie es schien sehr aufwendigen, Drink für Konsul Deveraux. Auf der Theke stand eine geheimnisvolle Flasche ohne Etikett. Absinth war zwar seit drei Jahren verboten, doch es verlangten immer noch viele Gäste nach der «grünen Fee». Henning hatte deshalb stets etwas «Spezial-Anis» zur Hand. Für diesen Drink wurde nur eine kleine Menge Absinth in einer schon fast alchemistisch anmutenden Prozedur im Glas geschwenkt und wieder ausgegossen. Erst dann wurde der eigentliche Drink aus Whiskey und einigen weiteren Zutaten gemixt. Der Konsul sah hocherfreut aus, als er das mit einer Zitronenschale verzierte Glas endlich in Empfang nehmen durfte. Henning wischte sich die
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