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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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kümmern – keine Sorge. Aber ich will nicht, dass sie noch tiefer in diese Geschichte hineingeraten. Ich habe Miss Staufer versprochen, dass keine Unschuldigen mehr zu Schaden kommen werden.»
    Henning überreichte Christian seinen Spazierstock. «Und ich habe ihr versprochen, auf Sie aufzupassen. Es ist einzig und allein Miss Staufers Schuld, wenn sie uns widersprüchliche Versprechen abnimmt. Sie kann uns deshalb nicht böse sein.»
    Gegen seinen Willen musste Christian lachen. «Also gut – kommen Sie mit. Aber Sie werden tun, was ich sage, und nicht versuchen, im unmöglichsten Moment den Helden zu spielen!»
    «Das werde ich bestimmt nicht – dazu eigne ich mich nicht besonders.» Er musterte Christian eindringlich. «Ich hoffe, Sie haben unter dem Mantel eine Waffe versteckt. Und zwar ein bisschen geschickter als Mister Seymour.»
    «Ja, und seien Sie froh, dass Mister Seymour das Modell nicht sehen kann. Eine Parabellum wäre für ihn ein weiterer Beweis für meine verräterische Gesinnung. Aber ich hoffe, die Sache ohne Gewalt über die Bühne zu bringen. Im Übrigen müsste ich mich sehr in den Gewohnheiten einer gewissen Nation täuschen, sollten wir nicht ungefragt grosskalibrige Schützenhilfe erhalten.»
    Seltsame Dinge gingen auf einmal im Splendid vor sich. Durch das Haupttreppenhaus segelten kleine, aus Papier hergestellte Flugmaschinen. Ein paar fanden ihren Weg sogar bis hinunter ins Vestibül, wo Herr Ganz stirnrunzelnd eines dieser kleinen Wunderwerke auseinanderfaltete. Das Papier war von oben bis unten mit unsinnigen Buchstabenreihen übersät. Auf einem der Flügel stand in roter Tinte: «Wertvolle Fundsache an Meistbietenden zu versteigern. Nur seriöse Angebote. Heute 12 Uhr, wo Phaeton sich ausruht.»
    Zum nicht geringen Ärger von Herrn Ganz schwebten auch vor dem Hotel diese kleinen Flugmaschinen herunter, manche von ihnen flogen sogar bis zum Eisfeld und landeten zwischen Gästen, die sich dort verlustierten. Und er bemerkte sehr wohl, dass kein einziger Page in Sichtweite war.
    «Also so was. Fangen sie wieder mit diesem Unsinn an!»
    Mit einem heftigen Schnaufen nahm er den Lift nach oben, um ein paar Ohren lang zu ziehen. Aber als er endlich im obersten Stock angelangte, war von den Missetätern nichts mehr zu sehen. Wütend machte er sich auf den Weg nach unten, diesmal gesetzten Schrittes über die Treppe, in der Hoffnung, doch noch einen der Schlawiner in flagranti zu erwischen. Aber alles, was er zu sehen bekam, waren Gäste, die entweder mit den Flugmaschinen spielten oder sie interessiert auseinanderfalteten.
    Herr Ganz hatte nicht bemerkt, dass alle Papierbögen mit derselben Botschaft, aber in verschiedenen Sprachen, versehen waren.
    Der Gottesdienst neigte sich dem Ende entgegen. Anna wartete, bis der Trauerzug die Kirche verliess, dann nahm sie Lady Georgianas Arm.
    «Wir müssen gehen, jetzt sofort», flüsterte sie. «Wenn wir uns beeilen, erreichen wir noch den Mittagszug nach Sternenbach. Der nächste Zug fährt erst wieder in zweieinhalb Stunden.»
    «Aber ich dachte, es ginge jetzt noch auf den Friedhof», protestierte Lady Georgiana, doch Anna zog sie bereits davon.
    «Mir ist eingefallen, wo noch niemand gesucht hat. Wir müssen so schnell wie möglich zurück nach Sternenbach. Kommen Sie, ich erzähle es Ihnen unterwegs.»
    Lady Georgiana fiel folgsam in denselben Laufschritt, den Anna eingeschlagen hatte. «Glauben Sie etwa, es könnte uns jemand zuvorkommen?
    «Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Man muss schon die Gouvernante des Splendid sein, um daran zu denken. Aber ich mache mir Sorgen, was Lieutenant Wyndham vorhat. Wenn er in Schwierigkeiten ist, wäre es vielleicht gut, die Chiffre in Händen zu haben.»
    Falls Lady Georgiana fand, Anna sollte mehr Vertrauen in Mister Seymours Fähigkeiten haben, behielt sie das für sich. Sie hastete neben Anna den Hang hinunter, doch sie war nicht in den Bergen aufgewachsen. Sie erkannte die vereisten, blaugrau schimmernden Stellen auf dem Weg nicht und stürzte ein, zwei Mal. Pagets bester Rock endete mit einem grossen Riss über dem Saum, aber sie erreichten den Zug noch rechtzeitig und liessen sich undamenhaft ausser Atem auf die gepolsterten Sitzbänke nieder.
    In der Remise herrschte nach der strahlenden Helle des Wintertages im Freien fast vollkommene Dunkelheit. Es dauerte eine Weile, bis man jenseits der Balken aus Licht und tanzendem Staub, die aus den kleinen Oberlichtern zu Boden stürzten, etwas

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