Chiffren im Schnee
«Exzellenz, wenn Sie wirklich von einem solchen Zartgefühl gegenüber dem schönen Geschlecht erfüllt sind, dann legen Sie jetzt besser Ihren Colt zu Boden.»
«Seien Sie vernünftig, Frau Kommerzialrat. Damit kommen Sie unmöglich davon!», sagte der Konsul. Doch er gehorchte und legte seine Waffe auf den Boden. «Wie wollen Sie aus dem Tal fliehen? Es ist eine einzige Falle. Ein Telegramm reicht schon, um Sie abzufangen.»
«Ach, wirklich?» Sie schürzte ihren Rock, darunter trug sie Lodenhosen und beschlagene Schuhe. «Ich bin keine Närrin. Meine Untergebenen haben die letzten Tage damit zugebracht, Routen aus diesem Kessel zu erkunden, auf denen uns so schnell keiner folgen dürfte.» Sie hielt abermals einen Moment inne, um Luft zu holen. «Nachdem Lieutenant Wyndhams Angebot auf dem Tisch war, habe ich sie mit Vorräten vorausgeschickt, um alles für unsere Flucht vorzubereiten. Aber ich werde nicht ohne die Hatvany-Chiffre gehen. Also, Fräulein Gouvernante, wenn Sie wohl die Güte besässen?»
Sie richtete ihre Waffe langsam auf Anna, dann auf einmal erstarrte sie, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Sie öffnete den Mund, doch sie konnte nicht sprechen. Die Waffe entglitt ihr, und sie griff sich an die Brust. Ihre Hand verkrampfte sich in dem schwarzen Spitzenjabot auf ihrer Brust, und sie stürzte zu Boden.
Lady Georgiana half Anna auf, die noch immer das Manuskript des Professors umklammert hielt. Beide starrten sie auf die reglose Gestalt am Boden.
Der Konsul eilte herbei und beugte sich über Frau Göweil, nach einem Puls suchend. Doch es war ein vergebliches Unterfangen. Er liess davon ab und fuhr mit seiner Hand sanft über das leblose Gesicht. «Madame – Sie haben soeben einen Menschen getötet», meinte er leise.
Madame Gérard hatte sich erhoben, nun strich sie ihre Haare glatt. «Ich weiss nicht, wovon Exzellenz sprechen. Frau Göweil hat uns doch immer wieder versichert, dass ihr Herz beim Tode ihres Gatten brach – nun hat es ihr endgültig den Dienst versagt.» Sie blickte um sich, sah ihren Hut zu Annas Füssen und hob ihn auf. «Sie ist jetzt endlich mit ihrem geliebten Gustav vereint, so wie sie es sich gewünscht hat.» Vorsichtig setzte sie den Hut auf, die Hutnadel schien sie nicht zu vermissen.
Anna vermutete, dass die Nadel im Ausguss verschwunden war. Der Konsul kniete immer noch neben Frau Göweil. Er blickte suchend um sich, dann stand er auf. «Diese Hutnadel war gefährlicher als mein Colt, nicht wahr? In was haben Sie die Spitze getaucht?»
«Exzellenz haben zu viele billige Romane gelesen», meinte Madame Gérard, während sie den Hut sorgfältig zurechtrückte, sodass er eine elegante Neigung erhielt. «Es gibt keine so schnell wirkenden Gifte.» Sie drehte sich zu Anna um. «Die Gouvernante hat also gefunden, wonach wir alle gesucht haben. Ich gratuliere Ihnen, Mademoiselle. Wenn Sie Ihre Karten richtig spielen, werden Sie das neue Jahr als reiche Frau beginnen.»
Monsieur Gérard tauchte im Türrahmen auf, er sah etwas derangiert aus. «Ma chère, sind Sie verletzt? Ich habe einen Schuss gehört!» Er eilte auf seine Frau zu und küsste ihre Hand.
«Es geht mir gut.» Sie deutete über die Schulter, ohne sich umzublicken. «Diese Person hat das Leben unserer Tochter bedroht. – Sie wird das nie wieder tun.»
Der Konsul steckte seine Waffe ein und murmelte leise: «The Female of the Species.»
«In der Tat, da hat Mister Kipling schon recht. Frau Göweil war gefährlich. Sie hatte bereits einen Mord auf sich geladen, und sie wäre vor einem weiteren wohl kaum zurückgeschreckt.» Madame Gérard schmiegte sich schutzsuchend an ihren Gatten. «Vielleicht war sie sogar ein wenig verrückt – all das Gerede von Gesprächen mit den Toten. Es wäre wohl ein Akt der Menschlichkeit gegenüber ihrer Familie und ihrer Regierung, wenn die genauen Umstände ihres Todes nicht bekannt werden.» Als niemand etwas dazu sagte und sie alle nur anstarrten, fuhr sie fort: «Frau Göweil ging im Park spazieren, und auf einmal wurde ihr übel. Sie wollte hier um ein Glas Wasser bitten, und wir alle haben sie aus Sorge um ihre Gesundheit begleitet. Leider verstarb sie unverhofft an einem Herzschlag – was alle Anwesenden bezeugen können.»
Der Konsul war ob so viel Kalkül erschüttert. «Unglaublich! Sie wollen also wirklich, was sich hier abgespielt hat, einfach so vertuschen!»
«Ich stimme mit Madame überein», meinte Oberleutnant Ranke. «Die Frau war eine
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