Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
Vom Netzwerk:
Pistole dabei, doch heute habe ich sie in meinem Zimmer gelassen. Ich dachte, es wäre unpassend, mit so etwas an eine Beerdigung zu gehen!»
    Als sie in die Waschküche kamen, fanden sie sich unversehens Frau Göweil gegenüber, die ausser Atem und mit rotem Gesicht eine elegante Waffe mit Perlmuttgriff auf sie richtete.
    «Sieh an, sieh an. Es hat sich gelohnt, den Rockschössen des Kapellmeisters zu folgen. Ich hoffe, Sie sind vernünftig und geben mir den rechtmässigen Besitz der österreichisch-ungarischen Regierung ohne Sperenzchen zurück.»
    Anna hatte keine Zeit, auf diese erstaunliche Forderung einzugehen. Jemand rannte gegen die Aussentür, die Frau Göweil hinter sich abgeschlossen haben musste. Aufgeregte Stimmen waren zu hören, dann Schritte, die sich um das Haus in Richtung Treppe zum Haupteingang entfernten.
    «Ich habe nicht viel Zeit.» Die Frau Kommerzialrat machte mit der Waffe eine ungeduldige Bewegung. «Nun geben Sie schon her.»
    Polternde Schritte und laute Stimmen erklangen im oberen Stock. Wer auch immer versucht hatte, die Tür zum Windfang zu öffnen, war nun im Haus. Der Frau Kommerzialrat ging die Zeit aus, Anna aber ebenso. Ob jetzt Hilfe kam, wusste sie nicht, aber sie hoffte es. Sie schürzte den Rock und trat einen der Bottiche um, Wasser spritzte auf den Boden vor die Frau Kommerzialrat, die mit einem kleinen Schrei zurückwich. Im selben Moment eilten die Herren Offiziere herbei mit Herrn Mamonov im Schlepptau. Es war nicht die Hilfe, auf die Anna gehofft hatte, aber besser als gar nichts.
    Doch die Frau Kommerzialrat hatte sich wieder gefangen und kontrollierte mit ihrer Waffe jeden im Raum.
    «Ich sagte Ihnen doch, Sie würden nur in noch grössere Schwierigkeiten geraten», meinte Herr Mamonov.
    Oberleutnant Rankes sonst so tadellose Erscheinung hatte unter der wilden Jagd gelitten. Er war barhäuptig und verschwitzt, die sonst so akkurat platzierten Locken kringelten sich unbotmässig um seine Schläfen. Nun versuchte er, der Situation Herr zu werden. Er wandte sich an Frau Göweil: «Sie glauben doch nicht wirklich, dass Sie noch entkommen können!» Mannhaft trat er zwischen Anna und die Waffe, den Rücken der Frau Kommerzialrat zugewandt. «Geben Sie mir diese Papiere, mein Fräulein – dann sind Sie in Sicherheit vor diesem verrückten Weibsbild.»
    Erneut waren Stimmen und Schritte im Haus zu hören. Anna presste die Bögen fest an sich und beschloss, auf Zeit zu spielen. «Ich muss Ihr ritterliches Angebot leider ablehnen, Herr Oberleutnant.»
    Lady Georgiana trat an ihre Seite. Sie hatte sich mit einem Wäschestampfer bewaffnet und richtete das kupferne Kopfstück auf den Oberleutnant.
    Er starrte sie beide an, als hätten sie den Verstand verloren. Mit einem verächtlichen Schulterzucken trat er zur Seite. «Bitte, nur zu. Dann lassen Sie sich eben erschiessen.»
    Weitere Personen stürmten in die Waschküche. Verblüfft erkannte Anna Madame Gérard und den amerikanischen Konsul, der ebenfalls eine Waffe dabeihatte. Doch bevor er diese auf Frau Göweil richten konnte, stürzte sich Madame Gérard mit einem Schwall wütender französischer Schimpfworte auf die Frau Kommerzialrat.
    Die Waffe ging los. Anna hörte ein dumpfes Krachen, gefolgt von aufgeregten Schreien. Sie packte Lady Georgiana am Arm und blickte erschrocken um sich. Der Schuss war nahe am Kamin in der Ecke eingeschlagen, ein Loch klaffte nur ein paar Armlängen von ihren Köpfen entfernt in der Mauer. Verputz und Kalkstein rieselten daraus hervor.
    Madame Gérards Hut rollte wie ein Wagenrad vor Annas Füsse. Die beiden Frauen wälzten sich am Boden. Das ausgegossene Wasser hinterliess dunkle Flecken auf Madames hellem Mantel; kleine schwarze Jettperlen flogen durch die Luft.
    Da blitzte Madame Gérards Hutnadel in ihrer Hand auf. Das spitze Instrument zeigte direkt auf Frau Göweils Gesicht, die schützend ihren rechten Arm hob, während sie die Waffe immer noch umklammert hielt. Ihre linke Hand krallte sich in Madame Gérards Haar. Madame Gérard schrie auf, die Nadel schrammte über Frau Göweils Handgelenk. Mit letzter Kraft zerrte Frau Göweil Madame Gérard an den Haaren von sich herunter. Sie hielt ihre kniende Gegnerin mit der Waffe in Schach und richtete sich langsam und schwer atmend auf. Ein dünnes rotes Rinnsal zeigte sich auf dem schmalen Streifen Haut zwischen Handschuh und Ärmel.
    Frau Göweil rang nach Luft, schliesslich sagte sie, ohne ihre Augen von Madame Gérard zu nehmen.

Weitere Kostenlose Bücher