Chiffren im Schnee
Gefahr für uns alle, so ist es besser. Meine Kameraden und ich werden Ihre Geschichte bezeugen, Madame. Dafür werden Sie aber alle Ansprüche an dem Manuskript des Professors aufgeben.»
Anna hörte wieder Schritte, langsame, mühevolle Schritte, begleitet von sicheren, helfenden Schritten. Sie blickte zur Tür, wo endlich Lieutenant Wyndham auftauchte. Er blickte zu ihr und zu dem Einschussloch in der Wand, seine Lippen formten ein tonloses Wort.
Erst jetzt bemerkte sie, dass er Mister Derringer und Henning mitgebracht hatte. Die Neuankömmlinge registrierten die Lage in der Waschküche schweigend. Henning warf einen Blick auf die Tote und schüttelte den Kopf.
«Sie sind ja schlimmer als die Aasgeier», sagte der Konsul angewidert. «Wollen Sie jetzt tatsächlich weiter um dieses Manuskript schachern?»
«Den Worten Madames entnehme ich, dass es sich dieses Mal um keine Fälschung wie in der Remise handelt», meinte der Oberleutnant. «Selbstverständlich ist das Reich weiterhin zu Verhandlungen bereit. Und Sie brauchen nicht so zu tun, als wären Sie hier als unbeteiligte Partei. Sie sind der Einzige mit einer Waffe.»
«Grosser Gott, Mann, als ob die amerikanische Regierung so etwas nötig hätte. Wir verfolgen eine ehrliche Politik ohne Lügen, Spionage und Ränke – wir brauchen keine Chiffren, um Kriegspläne und Intrigen zu verbergen. Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten.»
Monsieur Gérard lachte rau. «Oh bitte, nun machen Sie sich nicht lächerlich, Monsieur le Consul. Ihre Regierung legt die Monroe-Doktrin doch aus, wie es ihr passt. Sollen wir die Menschen auf den Philippinen oder auf Kuba fragen, was sie von solchem Unsinn halten?»
«Sie brauchen sich gar nicht länger zu streiten wie Hunde um einen alten Knochen», liess sich Lady Georgiana mit etwas zittriger Stimme vernehmen. Sie nahm dieselbe Pose ein, mit der sie sich jeweils abends im Spiegel studierte; zu ihrer vollen Grösse aufgereckt, das Kinn leicht angehoben. «Professor Hatvany wollte, dass sein Werk in die Hände der Macht gelangt, die am ehesten Frieden und Wohlstand für alle gewährleisten kann. Es steht ausser Zweifel, dass dies das britische Empire ist.»
In dem wütenden Proteststurm, der dieser Erklärung folgte, suchte Anna Lieutenant Wyndhams Blick. Ihre Hand schwebte über dem Holzdeckel des Waschkessels, in dem die Lauge vor sich hin köchelte. Er nickte unmerklich.
Mit einer schnellen Bewegung stiess Anna den Deckel zur Seite und liess die Papierbögen in den Sud fallen. Sie hörte empörte Schreie, aber das war ihr egal. Sie entriss Lady Georgiana den Wäschestampfer, und mit ein paar heftigen Stössen sorgte sie dafür, dass alles untergetaucht war. Langsam färbten sich Wasser und Schaum tiefblau.
Einer der Offiziere stiess sie zu Boden und versuchte, ein paar Papiere zu retten, er verbrühte sich dabei die Finger. Lady Georgiana starrte sie fassungslos an, aber es tat Anna nicht leid.
Der Konsul eilte zu ihr und half ihr auf. «Das haben Sie gut gemacht, mein Mädchen. Ganz hervorragend!»
Sie dankte ihm geistesabwesend und eilte zur Tür, wo der einzige Mensch stand, mit dem sie reden wollte. Was immer er auch an diesem Morgen unternommen hatte – und der wilden Jagd nach zu schliessen, die all diese Menschen in die Waschküche gebracht hatte, war es einiges gewesen – er hatte dafür einen hohen Preis bezahlt, das konnte sie sehen.
«Es geht Ihnen nicht gut!»
Er überreichte Henning, der ebenso wie Mister Derringer recht unpassend grinste, seinen Spazierstock und zog sie in seine Arme. «Doch, jetzt geht es mir gut!»
Neujahr
«Seit ich im Schlaf
den Mann gesehen, den ich
von Herzen liebe,
seit dieser Zeit erst liebe ich
der Träume bunter Falter.»
Ono no Komachi, 9. Jahrhundert
In der Waschküche herrschte ein wildes Durcheinander, alle redeten gleichzeitig. Anna verharrte still dort, wo sie war, und spürte seine Wärme, seine Atemzüge und seinen Herzschlag.
Da hüstelte Mister Derringer. «Wenn ich die Heilige Schrift zitieren darf: ‹Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen.› Ich glaube, die gehen sich demnächst an die Gurgel. Der gute Deveraux könnte etwas Hilfe gebrauchen.»
«Es gibt auch eine Zeit, die Bibel zu zitieren, und eine Zeit, es zu lassen.» Die Arme um Anna lösten sich widerstrebend.
Sie drehte sich um und vermied es dabei tunlichst,
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