Chiffren im Schnee
davon.»
Anna hatte das Gefühl, dass dem Oberleutnant die Konsequenzen dieser Geschichte inzwischen völlig gleichgültig waren. Er sah aus wie ein Mann, der zum Äussersten getrieben worden war. Der Gedanke schoss ihr durch den Kopf, dass er in den letzten Wochen vielleicht gar kein Theater gespielt hatte und dass die Verachtung, mit der er Henning nun behandelte, eigentlich jemand anderem galt – nämlich sich selbst.
Doch was immer in ihm vorgehen mochte, seine Kameraden hatten genug. Sie zogen ihn in eine Ecke und redeten heftig auf ihn ein. In der Waschküche spielte sich ein seltener Moment der Insubordination in der kaiserlichen Armee ab.
Anna kam sich auf einmal fremd und verloren vor. Was tat sie hier überhaupt? Sie glaubte Lady Georgianas vorwurfsvollen Blick noch immer auf sich zu spüren. Vorsichtig trat sie neben Henning, der verstohlen nach ihrer Hand griff und sie kurz drückte.
Schliesslich trat der Oberleutnant, weiss vor Wut, zum Konsul. «Also gut», schnarrte er. «Erklären Sie uns, was zu tun ist. Mit solch schmutzigen Affären haben wir normalerweise nichts zu tun!»
«Als Erstes sollten wir uns auf eine stimmige Darstellung der Geschehnisse einigen. Madame Gérards Version hat einiges für sich. Frau Göweil war auf einem Spaziergang im Park, wie wir alle auch. Sie beklagte sich über plötzliches Unwohlsein und wollte hier um ein Glas Wasser bitten. Wir sind ihr alle besorgt gefolgt, kaum im Haus angelangt, brach die unglückliche Dame tot zusammen. Lady Georgiana und Miss Staufer waren bereits hier, um in der Lingerie nach einem Handschuh zu suchen, den Lady Georgiana aus Versehen in die Wäsche gegeben hat. Das ist alles ein bisschen wackelig, aber wir müssen davon ausgehen, dass etliche Leute gesehen haben, wie wir alle hierhergerannt sind.»
Nicht jedermann schien überzeugt. Der Konsul seufzte. «Wenn ein Konsul der Vereinigten Staaten, drei Offiziere der kaiserlichen Armee, ein Mitglied der englischen Aristokratie und ein aufrechtes Paar Bürger der Republik alle dasselbe erzählen, sollte das genug Gewicht haben, um lästige Fragen zu zerstreuen.»
Anna stellte fest, dass die Aussagen von Gouvernante, Barkeeper und Kapellmeister anscheinend nicht viel zählten. Das sollte ihr recht sein. Dieser Teil der Geschichte gefiel ihr gar nicht, auch wenn sie den kalten Pragmatismus, den der Konsul an den Tag legte, verstand. Eine Mordanklage gegen Madame Gérard würde aus Mangel an Beweisen nie zustande kommen; dafür jede Menge unangenehmer Fragen aufwerfen und zu zahlreichen diplomatischen Schwierigkeiten führen. Niemandem hier im Raum war daran gelegen.
Der Lieutenant hatte sich neben der Tür an die Mauer gelehnt und die Augen geschlossen. Mit einer Hand klammerte er sich am Türrahmen fest, Anna sah die Knöchel weiss hervorstehen. Mister Derringer schob ihm einen Schemel hin, doch er lehnte kopfschüttelnd ab.
Der Konsul fuhr fort. «Dann muss jetzt die unglückliche Frau Göweil zurück ins Hotel geschafft werden – und zwar von Ihnen, meine Herren. Ich glaube nämlich nicht, dass man die Dame anheben kann, ohne ihre ungewöhnliche Ausstaffierung zu bemerken. Deshalb muss sie auch sofort auf ihr Zimmer geschafft und dort entsprechend den Gewohnheiten ihres Geschlechts umgekleidet werden, noch bevor der Arzt eintrifft, den wir natürlich auch verständigen müssen.»
«Nun, ich bin mir sicher, Mademoiselle Staufer wird das in ihrer vortrefflichen Weise bewerkstelligen», liess sich Madame Gérard lächelnd vernehmen.
Anna starrte sie an, sprachlos angesichts der Unverschämtheit.
Lieutenant Wyndham hatte es hingegen die Sprache nicht verschlagen. Er liess den Türrahmen los und richtete sich auf. «Das wird sie ganz bestimmt nicht, Madame!», sagte er scharf. «Sie werden gefälligst selbst die Folgen Ihres Tuns beseitigen. Ihre Töchter, die Sie ja so hervorragend in Ihrer Profession unterwiesen haben, können Ihnen bei diesen Zofenpflichten zur Hand gehen! Das wird ihnen eine gute Lektion sein.»
Der Konsul fügte kühl hinzu: «Dem kann ich nur zustimmen. Sie werden die Herren Offiziere auf ihrem traurigen Gang begleiten. Reich und Republik werden zur Abwechslung einmal zusammenarbeiten.»
Madame zuckte mit den Schultern und setzte sich auf einen Schemel. Der Konsul wandte sich an Henning: «Nun, wo bekommen wir eine Bahre her?»
«Hier auf dem Dachboden», erwiderte Anna an Hennings statt. «Der Aufgang ist im obersten Stock am Ende des Ganges.»
Sie wollte
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