Chiffren im Schnee
seine Arbeit in den langen Jahren einer kinderlosen Ehe oft zu Hause besprochen. Sicherlich war dies ein weiteres Zeichen dafür, wie ungewöhnlich tief und innig diese Verbindung gewesen war. Schliesslich hatte Frau Professor Hatvany genug über die Chiffrierkunst gelernt, um die Schriften ihres Mannes zu lesen und zu verstehen.
Ihr Wissen über seine Arbeit und seinen geistigen Zustand hatte ausgereicht, um zu erkennen, dass er einer Chimäre hinterherjagte. Sie blieb allein mit der verzweifelten Erkenntnis, dass das Manuskript, das ihr geliebter Gatte als sein Lebenswerk betrachtete, nichts weiter als unverständliches Gekritzel war. Sie konnte niemanden um Hilfe bitten, Scham und Angst vor Mitleid hielten sie zurück. Und doch konnte sie ihn nicht aufhalten, ihm nicht ausreden, jene verhängnisvollen Briefe zu schreiben, in denen er sein letztes grosses Werk anpries und Vertreter aller grossen Mächte in die Schweiz, in seine geliebten Berge, einlud.
Anna blätterte zum Tag der Ankunft der Hatvanys im Splendid. «‹Ich weiss nicht mehr, was ich tun soll. Bisher konnte ich seinen Zustand vor der Welt verbergen. Doch wenn all diese Leute hier eintreffen, mit denen er verhandeln will, dann werden sie wohl bemerken, dass Janos nicht mehr er selbst ist. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, was dann geschehen wird. Das Getuschel und das herablassende Mitleid. Ich hatte so gehofft, die vertraute Gegend würde ihm dabei helfen, sich zu entsinnen, doch nichts scheint zu fruchten. Wir sind kaum hier angekommen, da hat er mich angefleht, das Manuskript zu verstecken. Er ist überzeugt, dass man uns folgt und beobachtet. Schliesslich habe ich eingelenkt. Gott weiss, wie schwer es mir fällt, seinen Phantasien nachzugeben, doch er hat sich so aufgeregt, dass ich mir nicht mehr zu helfen wusste. Erst als ich ihm zeigte, wo das Manuskript jetzt versteckt ist, ging er beruhigt zu Bett. Ich habe einen Ort gefunden, wo niemand suchen wird.›»
«Damals muss sie die Seiten in die Vorhänge eingenäht haben», sagte Lieutenant Wyndham leise. «Warum liess der eifrige Jean eigentlich diese Vorhänge unbehelligt? Diesen Teil der Geschichte habe ich immer noch nicht ganz verstanden. Lady Georgianas Erklärungen waren etwas unzusammenhängend.»
Anna erzählte ihm von den eigenartigen Hygiene-Vorstellungen der Frau Baronin von Helmdorf, und er schüttelte nur staunend den Kopf. Anna fuhr fort: «Und als die Anweisung kam, den Salon als Lesezimmer einzurichten, habe ich neue Vorhänge besorgt. Die Vorhänge, in die Frau Professor Hatvany das Manuskript eingenäht hatte, waren die ganze Zeit über in einem Wäscheschrank in der Dépendance. Ich wünschte, das wäre mir früher eingefallen.»
«Da verlangen Sie ein bisschen gar viel von sich», meinte er ruhig. «Tun Sie das nicht. Sie trifft keine Schuld an dem, was geschehen ist.»
Sie sagte nichts mehr dazu und beugte sich über das Tagebuch, um weiter vorzulesen. Es war eine schwierige Lektüre, denn die Frau Professor wurde immer verzweifelter. Und ein Plan, den sie zuerst nur in vagen Worten ihrem Tagebuch anvertraute, nahm immer mehr Form an: «‹Ich sehe nun, dass ich nichts mehr für meinen geliebten Janos tun kann, als seinen Ruf und seine Ehre zu retten, bevor er zum Objekt von Mitleid und Gespött wird. Ich werde mit ihm nach Nizza fahren, wo wir unsere Hochzeitsreise verbrachten. Sosehr ich diese Papierbögen hasse, ich kann sie nicht vernichten, aber ich will sie nicht mehr länger bei uns haben. Ich kann ihren Anblick nicht mehr ertragen. Deshalb werde ich das Manuskript in seinem Versteck belassen. Vielleicht wird es Janos sogar besser gehen, wenn er endlich davon befreit ist. Ich lege auch diese Aufzeichnungen bei. Mein Entschluss steht fest: Es hat keinen Sinn mehr, meine Gedanken leblosem Papier anzuvertrauen. Die verbleibende Zeit werde ich nur noch für ihn da sein, ohne Zweifel und ohne Angst und ohne Sorge um mich und wie die Welt über mich urteilen wird. Wichtig ist nur, dass Janos im Gedächtnis all jener, die ihn geliebt und verehrt haben, unversehrt, heil und ganz verbleibt. Ich lege dieses Tagebuch zu Janos’ Manuskript, beides zusammen mag eines Tages in der Lumpensammlung enden. Doch wichtig ist nur, dass die Welt Janos so in Erinnerung behält, wie er einst war.›» Anna starrte mit Tränen in den Augen auf das Tagebuch. «Sie muss so verzweifelt gewesen sein – und niemand hat es bemerkt.»
«Hören Sie auf damit», sagte er rau. «Sie haben
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