Chiffren im Schnee
ihm hineingehe und ihn so sehe. Aber um ehrlich zu sein, ich wäre wohl auch keine grosse Hilfe. Und zu allem Unglück haben wir uns diesen Nachmittag auch noch gestritten, das war so dumm von mir!»
Anna war sich nicht sicher, ob sie helfen konnte – oder sollte. Aber sie wusste, was von ihr erwartet wurde. «Machen Sie sich keine Sorgen, Mylady. Ich werde mich darum kümmern.»
Lady Georgiana lehnte sich mit einem Seufzer an die Wand. «Es tut mir leid.» Sie blickte zu Anna und berührte leicht ihren Arm. «Es tut mir leid. Ich wünsche Ihnen alles Gute zum neuen Jahr, Miss Staufer.»
«Vielen Dank, Mylady. Ich wünsche auch Ihnen und Mister Seymour alles Gute.» Anna wollte nur endlich durch die Tür schreiten und sich dem stellen, was sie dort erwartete.
Lady Georgiana spürte ihre Unruhe. «Ich gehe jetzt besser. Aber wenn Sie etwas brauchen, lassen Sie mich rufen. Ich glaube nicht, dass ich diese Nacht überhaupt schlafen werde.»
Anna blickte ihr kurz nach, wie sie den Gang entlang davoneilte. Ein Gast, der etwas schwankend von den Festivitäten auf sein Zimmer zurückkehrte, kreuzte Lady Georgianas Weg, blieb stehen und starrte ihr nach. Sie hatte das Haar zu einem einfachen Knoten im Nacken geschlungen. Der einzige Schmuck, den sie trug, war eine mit Pfingstrosen bedruckte Seidenstola, die sie um die Schultern gelegt hatte. Doch selbst so zog sie die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich. Anna wartete nicht, bis er an ihr vorbeikommen würde, ohne sie zu beachten – sie drückte die Türklinke herunter und betrat die Suite.
Ein schmaler Streifen Licht schien unter der Tür zum Schlafzimmer durch. Sie klopfte leise und trat ein. Vom Eisfeld im Park ertönte Gelächter. Herr Bachmann hatte Fackeln in die Schneewälle um das Eis gesteckt, deren Schein die Nacht immer noch erhellte. Anna zog die Vorhänge zu und wandte sich um. Dieses Mal hatte er sich nicht aus dem Licht zurückgezogen. Das schwache Licht der Nachttischlampe liess tiefe Schatten auf seinem Gesicht erscheinen. Er hatte die Hände unter der Decke versteckt – eine Geste, die sie mehr aufwühlte als alles andere.
«Es ist noch nicht so schlimm, wie es aussieht.»
«Was soll ich tun?», fragte sie nur und wunderte sich, was sie wirklich tun würde, sollte er sie darum bitten, ihm das Spritzbesteck und das Morphium zu überlassen.
«Zuerst einmal wäre ich froh, wenn Sie mir verzeihen würden. Ich hätte Sie nie darum bitten dürfen, das Morphium für mich zu verwahren. Das ist eine Last, die ich niemandem aufbürden darf. Wenn ich Sie nun bitte, es hierzulassen und wieder zu gehen, würden Sie das tun?»
«Ja und nein», hörte sie sich zu ihrer Überraschung antworten. «Ich gebe Ihnen das Morphium zurück, aber ich werde nicht gehen. Ich werde hierbleiben, und wenn Sie entscheiden, dass Sie es nicht mehr aushalten, dann will ich dabei sein.» Sie holte den kleinen Behälter hervor und legte ihn auf den Nachttisch. Dann zog sie einen Stuhl heran, nahm die Tagesdecke, wickelte sich darin ein und setzte sich neben das Bett, sodass sie sein Gesicht sehen konnte.
«Danke. Sie müssen müde sein, es war ein langer Tag.»
«Das war es, aber in der Silvesternacht rechne ich nie mit viel Schlaf. Wenn Sie schlafen möchten, dann sagen Sie es mir. Sonst würde ich Ihnen gerne etwas vorlesen.»
«Ich fürchte, an Schlaf ist nicht zu denken. Also, was haben Sie denn da mitgebracht?»
«Das Tagebuch von Frau Professor Hatvany», sagte Anna und hielt das Büchlein hoch. «Wir haben es zusammen mit dem Manuskript gefunden, aber ich glaube, Lady Georgiana hat es vergessen. Es ist vielleicht nicht sehr anständig, darin zu lesen. Doch angesichts all der Dinge, die geschehen sind, habe ich trotzdem einen Blick hineingeworfen. Sie war eine gute Frau, und ich hatte gehofft, das Tagebuch würde mir vielleicht verstehen helfen, warum sie so etwas Schreckliches tat.»
«Und haben Sie eine Antwort gefunden?»
«Nun, ich bin noch nicht ganz zum Schluss gekommen. Aber ja, ich fürchte, es gibt eine Antwort. Möchten Sie sie hören?»
Er nickte, und so begann sie, ihm die Einträge vorzulesen, in denen die Frau Professor beschrieb, wie ihr Mann langsam sich selbst verlor. Die furchtbaren Tage, an denen er begriff, was vor sich ging, und sie um Hilfe anflehte. Der verzweifelte Kampf um sein Gedächtnis, der darin mündete, die perfekte Chiffre zu entwickeln, bevor sein Geist endgültig in kindliche Wahrnehmung entschwinden würde.
Der Professor hatte
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