Chiffren im Schnee
Kartonschachtel voller Karten mit Kaminfegern, Kleeblättern und pummeligen Kindern angesammelt hätte, die ihr alle ein frohes neues Jahr wünschten. Und keines dieser Jahre wäre wirklich froh oder neu gewesen, sondern nur immer Wiederholung dessen, was sie schon kannte: das Leben anderer, das als bunter Reigen an ihr vorbeizog.
Sie legte die Karten auf das Bett und zog für die Feier ihre beste Bluse an. Sie wäre lieber alleine geblieben, doch man erwartete von ihr, im Personal-Speisesaal nach dem Rechten zu sehen. Es würde ein langer Abend werden. Sie strich ihre Haare im Spiegel glatt. Mit einem Mal konnte sie den Anblick kaum mehr ertragen; eilig verliess sie die Kammer.
Der Personal-Speisesaal war angesichts des Todesfalles im Haus nicht geschmückt worden. Es war üblich, dass ein paar musikalisch begabte Angestellte zur Neujahrsfeier aufspielten. Doch dieses Mal begrüsste man das neue Jahr ohne Musik und Tanz. Alle mussten an Jost denken, und es war ein nachdenkliches, beschauliches Fest.
Henning tauchte kurz auf, um sich zum Abendessen ein schnell heruntergeschlungenes belegtes Brot zu gönnen. In der Bar herrschte natürlich Hochbetrieb. Trotzdem nahm er sich Zeit, um mit Anna zu sprechen. «Ich bin die billets doux wie von Ihrem Lieutenant empfohlen losgeworden. Dass ich weiss, wie man einen Sazerac zubereitet, wiegt für seine Exzellenz mehr als meine moralischen Mängel. Ich habe ihm nicht mitgeteilt, dass er sich besser noch schnell ein paar Gläser davon gönnen sollte, bevor die Quelle versiegt.»
Anna wollte ihn noch fragen, was diese letzte rätselhafte Bemerkung zu bedeuten habe, aber da tauchte ein Page auf, der von einem ungeduldigen Gast ohne Zutrauen in Charles’ Fähigkeiten losgeschickt worden war. Henning wünschte ihr hastig einen guten Rutsch und eilte Richtung Bar davon.
Niemand murrte, als Herr Ganz und Anna kurz nach Mitternacht die Tafel aufhoben. Einige Angestellte blieben noch auf, um zusammenzusitzen – das stand ihnen frei, sofern sie am nächsten Morgen aus den Federn kamen. Ein paar unentwegte Seelen machten sich auf ins Dorf, wo Freinacht war.
Dies war eine unruhige Nacht, in der die Dienste der Gouvernante manchmal unverhofft gebraucht wurden. Anna wickelte sich in ihrer Kammer in eine Wolldecke und setzte sich an ihren Schreibtisch.
Das neue Jahr hatte begonnen, doch das alte Jahr liess sie nicht los. Sie wollte verstehen, was geschehen war und warum es geschehen war; wollte begreifen, wo der Anfang der verhängnisvollen Kette lag, die schliesslich zu Josts Tod geführt hatte. Sie holte zögernd das Tagebuch der Frau Professor hervor.
Der Ball war am Ausklingen, Gäste huschten flüsternd und kichernd durch die Gänge. Irgendwo im Haus quälte jemand in einem arg verspäteten Versuch, das neue Jahr zu begrüssen, eine Trompete. Anna hastete neben Paget die Treppe hinunter und überliess das Problem dem Nachtportier. Sie hielt das Tagebuch der Frau Professor umklammert und versuchte, sich auf Pagets Worte zu konzentrieren. Lady Georgiana hatte ihre Zofe um Hilfe ausgeschickt. Es ging dem Lieutenant nicht gut.
Paget war ungewöhnlich gesprächiger Laune. «Sie haben sich gestritten. Mylady war wütend, weil Lieutenant Wyndham ihr nicht erklären wollte, warum er Mister Seymour so behandelt hat. Sie glaubt tatsächlich, er habe das getan, um allen Ruhm für sich einzuheimsen und um Mister Seymour vor seinen Vorgesetzten schlecht dastehen zu lassen.»
«So ein Unsinn!», entfuhr es Anna, die nicht begriff, warum er seiner Cousine nicht einfach reinen Wein eingeschenkt hatte. Wahrscheinlich aus irgendeinem dummen, falsch verstandenen Ehrgefühl heraus.
Paget nickte grimmig. «Gott steh uns bei. Sie hat sich inzwischen erfolgreich eingeredet, dass sie den Idioten wirklich liebt!»
Anna wäre fast die Stufen hinuntergestolpert. Paget griff nach ihrem Arm und zog sie zurück. Gleichmütig fuhr sie fort: «Nun, vielleicht ist es das kleinere von zwei Übeln. Sie in einen Mann verliebt zu sehen, der für sie nur die Gefühle eines Bruders aufbringt, wäre auch nicht gerade einfach.»
Sie sagte nichts weiter, und Anna folgte ihr sprachlos. Lady Georgiana wartete vor der Kleinen Suite. Ihrem schlichten Kleid nach zu schliessen, hatte sie auf das Bankett verzichtet und allein mit ihrem Verlobten das neue Jahr willkommen geheissen, soweit dies der Zustand des Gentlemans eben erlaubt hatte.
«Oh, ich bin froh, dass Sie hier sind, Miss Staufer. Er will nicht, dass ich zu
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