Chiffren im Schnee
davon etwas erwähnt; sehr seltsam. Und was haben all die Leute um die Mittagszeit im Park gemacht?»
«Es ist heute ein ausnehmend schöner Tag», sagte Anna, in der Hoffnung, er würde nicht nach ihrem Part in dieser Geschichte fragen.
«In der Tat. Nun, an dieser Stelle werde ich das tun, was meinen Berufsstand auszeichnet: Ich höre rechtzeitig damit auf, Fragen zu stellen.»
«Ich muss noch ein paar Dinge für die Neujahrsfeier im Personal-Speisesaal erledigen. Und dann muss ich den Ballsaal kontrollieren», sagte Anna. Ihr war unter seinem nachdenklichen Blick nicht sonderlich wohl.
Er liess sich nicht beirren. «Es kommt für unsereinen selten gut heraus, wenn wir zu sehr in die Angelegenheiten der Herrschaft verstrickt werden. Seien Sie vorsichtig, Fräulein Staufer.»
Zu Annas Erleichterung trafen in diesem Moment neue Gäste ein, und sie machte sich auf den Weg ins Untergeschoss. In der Küche gelang es ihr, noch etwas zu essen zu besorgen. Sie hatte bis dahin gar nicht bemerkt, wie hungrig sie war. Der Personal-Speisesaal war inzwischen verlassen. Anna setzte sich an den langen Tisch und hoffte, in Ruhe ein wenig nachdenken zu können.
Lady Georgiana hatte sie gefragt, was sie tun wollte, und Anna war sich sicher, sie hatte nicht nach ihren Plänen für diesen Tag gefragt. Es war ihr, als hätte sie die vergangenen Tage durch eine Tür geblickt. Eine Tür, die sich nun wieder würde schliessen müssen. Doch sie fühlte immer noch die seltsame Unruhe, die sie inzwischen als Sehnsucht nach einem anderen Leben erkannte. Eine gefährliche Sehnsucht, das wusste sie, auch wenn sie sich davor scheute, diesem Gefühl einen Namen zu geben. Hinter ihr schepperte es, aus der Küche erklangen wütende Stimmen – das Bankett für diesen Abend musste perfekt sein, und jeder hatte seine Pflicht tadellos zu erfüllen. Das galt auch für die Gouvernante.
Anna erhob sich hastig und ging in die Kaffeeküche, um mit Frau Lanz die Neujahrsfeier für das Personal zu besprechen. Angesichts der Umstände sollte es eine schlichte Feier werden. Es würde Glühwein und Gebäck geben, aber auf die sonst übliche Unterhaltung würde man verzichten.
Im Ballsaal war alles in Ordnung. Anna hatte sich etwas Sorgen gemacht, weil Herr Schmied sich weder mit den Stubenmädchen noch den Hausknechten, die alle mithelfen mussten, besonders gut vertrug. Aber anscheinend hatte es keine Probleme gegeben. Mit Goldlitzen und Fransen versehene Banner mit Neujahrswünschen in verschiedenen Sprachen schmückten die Wände und die Bühne. Herr Brehm hatte sich nicht lumpen lassen und aus seinen Gewächshäusern wunderbare Teerosen gezaubert. Das Parkett glänzte, war aber nicht spiegelglatt poliert worden. Auch etwas beschwipste Herrschaften sollten so sicher das Tanzbein schwingen können.
Herr Mamonov war eben damit beschäftigt, sein Orchester einzuspielen. Zu Annas Erstaunen hob er bei ihrem Anblick grüssend die Hand und eilte von der Bühne herunter auf sie zu.
«Ich bin vorhin nicht mit den anderen ins Hotel zurück, den Kapellmeister brauchte ja niemand als Zeugen. Dafür habe ich oben in der Lingerie aufgeräumt, so gut ich konnte. Ich hoffe, Madame Dubois wird sich nicht allzu sehr aufregen. Sie ist eine sehr beeindruckende Dame, auf deren gute Meinung ich Wert lege.»
«Nun, der Verlust der Wäsche im Kessel, den ich zu verantworten habe, wird sie schwerer treffen», meinte Anna gemessen. «Wahrscheinlich wird sie es für einen Streich der Dorfjungen halten.»
Das schien ihn zu beruhigen. «Ich bin Ihnen übrigens nicht böse, mein Fräulein. Sie haben wohl das einzig Richtige getan. Aber so werde ich das in meinem Bericht natürlich nicht formulieren.» Dann wünschte er ihr alles Gute für das neue Jahr und verabschiedete sich. Anna war zu verblüfft, um die Wünsche zu erwidern. Sie starrte ihm nach, wie er zu seinem Orchester zurückkehrte. Herr Hrdlicka winkte ihr verstohlen zu.
Auf ihrem weiteren Weg durch das Hotel schien es Anna, als würde sie langsam in einem Mahlstrom vieler kleiner Verrichtungen zurück in ihr altes Leben gezogen. Zimmer- und Stubenmädchen überreichten ihr dem Brauch entsprechend kleine Neujahrskarten mit bunten Bildchen und heiteren Sprüchlein. Die Geschehnisse der vergangenen Tage wurden immer traumähnlicher.
Anna trug das Kartenbündel vor dem Abendessen in ihre Kammer und stellte sich vor, wie sie dies noch viele Jahre tun würde – wie sich am Ende ihres Lebens eine grosse
Weitere Kostenlose Bücher