Chiffren im Schnee
sich nichts vorzuwerfen, Anna.»
«Das kann ich aber nicht», entgegnete sie ebenso heftig. «Wie sollte ich auch? Ich war zu sehr damit beschäftigt zu prüfen, ob Betten richtig gemacht wurden und Simse abgestaubt waren.»
«Anna, Sie haben Ihre Arbeit erledigt – wie alle anderen auch. Viele Menschen kamen mit den Hatvanys in Kontakt und bemerkten nichts. Frau Hatvany war entschlossen, die Wahrheit zu verbergen. Ich bin ihr ein, zwei Mal begegnet. Sie mochte auf den ersten Blick unscheinbar und sanft wirken, aber sie hatte einen eisernen Willen.»
Anna hätte ihm zu gerne geglaubt, doch sie konnte es nicht. Und das ahnte er wohl, er sagte nichts mehr. Sie klappte das Tagebuch zu. «Sie hatten recht, es gab gar keine Chiffre. Kam Ihnen irgendwann der Gedanke, dass es so etwas gewesen sein könnte?»
«Ja, aber ich mochte den Professor und wollte keine Gerüchte in die Welt setzen. Es hätte auch keinen Unterschied gemacht, man hätte mir sowieso nicht geglaubt. Es gab die Chiffre, und es gab sie doch nicht.»
«Dann werden wir niemandem hiervon erzählen?»
«Ich würde den Wunsch der Frau Professor gerne respektieren. Aber wir dürfen nicht ausser acht lassen, was für Folgen ihr Tun bereits hatte.»
«Ja, aber jetzt ist die ‹Chiffre› ja vernichtet; niemand kümmert sich mehr um diese Geschichte.»
«Das ist wahr, und doch kann man daraus noch einiges lernen. Ich finde, wir sollten zumindest Lady Georgiana und Mister Seymour einweihen. Er soll sehen, dass sein grossartiger Plan, der so viel Leid gebracht hat, vollkommen sinnlos war; er wird tunlichst nichts davon weitererzählen. Ich glaube zwar nicht, dass die Geschichte bei ihm viel bewirken wird, aber vielleicht hilft sie, Lady Georgiana die Augen zu öffnen.»
Anna nickte und legte das Tagebuch zur Seite. Es war endlich still geworden. Die letzten Gäste waren zu Bett gegangen. Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang ein wenig zurück. Die Fackeln waren niedergebrannt, und über dem Park lag jene tiefe Dunkelheit, die die anbrechende Dämmerung ankündigte.
«Es wird bald hell werden», sagte sie.
«Es ist gut, es geht mir besser», meinte er leise. «Wir sollten wohl beide versuchen, noch etwas Schlaf zu finden.»
Sie war bereits an der Tür, als er sagte: «Vielen Dank und alles Gute für das neue Jahr.»
Anna wandte sich zu ihm um, aber sie brachte kein Wort heraus. Hastig öffnete sie die Tür und floh ins Lesezimmer, wo sie das Licht anmachte. Die japanische Hofdame, die ohne Entschuldigung durchs Leben gegangen war, blickte sie herausfordernd an. Sie berührte das Bild leicht mit den Fingerspitzen.
Als Christian erwachte, sass Miss Staufer wieder an seinem Bett. Inzwischen war es hell geworden, durch die Vorhänge drang sanftes Morgenlicht. Miss Staufer hielt die blaue Mappe mit überkreuzten Armen dicht an sich gepresst. «Ich habe Ihnen noch nicht alles Gute für das neue Jahr gewünscht. Und ich sollte das hier zurückgeben.»
Christian nahm Mappe wie Glückwünsche schweigend entgegen. Sie hatte offenbar noch mehr zu sagen, aber er war sich nicht sicher, dass er das je zu hören bekommen würde. Sie strich mit einer fahrigen Geste den Rock glatt. Er wartete geduldig.
«Die Gedichte sind wunderschön.» Sie holte tief Luft. «Sie brauchen einen Sekretär», sagte sie leise.
Er betrachtete sie eingehend. Ihr Gesicht war eine unerschütterliche Maske – dieses Mal allerdings nicht die Maske der Gouvernante. Dieses Mal war da etwas anderes, etwas Herausforderndes und zugleich Ängstliches. Sie hatte das Kinn leicht angehoben in einer Geste, die ihm bekannt vorkam.
Er öffnete die Mappe und nahm ein Blatt zur Hand. «Ich weiss, das ist alles nicht sehr übersichtlich. Man weiss gar nicht, welche Version denn nun gelten soll, und die vielen Randglossen und Fussnoten sind sehr verwirrend.» Vorsichtig wählte er seine nächsten Worte. «Aber ich würde meine Übersetzungen nur ungern jemandem überlassen, dem ich nicht vertraue. Es müsste jemand mit einem guten Ordnungssinn sein, der einen klaren Kopf hat, aber auch jemand, der Worte liebt und sich an ihnen berauschen kann.»
«Das sind leider widersprüchliche Eigenschaften, die denen, die sie in sich tragen, das Leben schwer machen.» Sie wirkte immer noch angespannt, als wäre sie nicht bereit, den letzten Schritt zu tun.
Er legte die Mappe zur Seite und griff nach dem Buch auf seinem Nachttisch, das neben dem immer noch verschlossenen silbernen Behälter lag. «Das glaube
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