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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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angeht, aber es ist auch kein Geheimnis. Sie verbringt die Zeit in Zürich, bei einer Dame, die viel gereist ist und auf der ganzen Welt Photographien gemacht hat. Und nun will diese Dame ihre Lebensgeschichte niederschreiben, und Fräulein Staufer hilft ihr dabei.»
    «Ach, und das kann Fräulein Staufer? Ich meine ja nur, sie ist doch keine Sekretärin.»
    Herr Brehm schnaufte. «Doch, das ist sie, sie hat das alles gelernt – Schreibmaschinen-Schreiben, Korrespondenz und Buchhaltung. Und weisst du, wie sie das gemacht hat? Während sie in England gearbeitet hat. Dort gibt es etwas, das man ‹correspondence course› nennt. Und was heisst das?»
    Jost, der mit dem plötzlichem Abfragen von Vokabeln mitten im Gespräch bereits leidvolle Erfahrungen gemacht hatte, runzelte die Stirn. «Irgendwas mit Briefen.»
    «Irgendwas mit Briefen! Das ist eine Schulung per Post – da setzt man sich am Abend, nach Feierabend, hin und lernt. Und das hat Fräulein Staufer gemacht, neben all ihrer Arbeit und erst noch auf Englisch. Daran solltest du dir ein Beispiel nehmen. Sie könnte jederzeit für Herrn Neumeyer einspringen, das hat sie sogar schon ein oder zwei Mal gemacht, als er krank war.»
    So ging es noch eine ganze Weile weiter, und Jost wünschte sich im Stillen, dass das Fräulein Gouvernante etwas weniger eifrig wäre. Er war froh, als das Räucherwerk endlich ein Ende fand und er den Befehl erhielt, die Tüllen einzusammeln und in den Schuppen zu bringen, in dem Herr Brehm Heizmaterial für den Winter sammelte.
    ***
    Anna wusste sehr wohl, dass ihr Tun und Lassen während der Zwischensaison immer für Gesprächsstoff sorgte. Seit dem Tag vor gut zehn Jahren, an dem Frau Hoffmann, die Nachbarin, und zwei Mitglieder des Gemeinderates sie dem zeternden Vater zum Trotz zum Bahnhof gebracht hatten, damit sie ihre erste Stelle antreten konnte, war sie nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Sie versuchte, darüber so wenig wie möglich nachzudenken.
    In Zürich angekommen, nahm sie das Tram bis zum Stadthaus-Platz, das kurze Stück den Alpen-Quai entlang wollte sie laufen. Zunächst aber verharrte sie einen Moment, um den Anblick der Seepromenade mit ihren prächtigen Gebäuden zu geniessen, so wie Gäste in den Bergen bei ihrer Ankunft erst einmal das Bergpanorama auf sich wirken liessen.
    Vor Anna lag die Tonhalle, umgeben von südländisch wirkenden Türmen, dann folgten das Rote und das Weisse Schloss mit ihren zahlreichen Türmchen, Erkern und Lukarnen. Im Hintergrund thronte auf einer Anhöhe der Turm der Kirche Enge. Er wirkte fast ein wenig herablassend, so als wüsste er, dass er im Gegensatz zu seinen Genossen an der Seepromenade mit einer Funktion jenseits des Dekorativen ausgestattet war.
    Anna machte sich auf den Weg. Unter den Bäumen der Promenade spazierten Pärchen und Familien in der milden Abendluft, und vom Arboretum her waren noch Kinderstimmen zu vernehmen. Ein leichter Wind wehte über den See. Vor dem Weissen Schloss angelangt, bei dem es sich trotz der prächtigen Ausstattung nicht um ein Schloss, sondern ein Appartementhaus handelte, verharrte sie nochmals kurz mit geschlossenen Augen, um das Gefühl zu geniessen, wieder in der Stadt mit all ihren Düften und Geräuschen zu sein, dann stiess sie das schmiedeeiserne Gittertor auf und schritt über den kurzen bekiesten Pfad zu einem Seiteneingang. Von einem der Fenster über ihr erklang eine Stimme, Fräulein Brennwald erwartete sie bereits.
    Als Anna das Appartement im zweiten Stock betrat, wurde sie herzlich begrüsst. «Wie geht es Ihnen, Anna? Bestimmt haben Sie den Sommer über wieder viel erlebt, wovon Sie mir nun nicht berichten werden. Ich wünschte, Sie wären nicht ein solches Musterexemplar an Diskretion.» Fräulein Brennwald hatte sich seit ihrer ersten Begegnung vor etlichen Jahren kaum verändert. Nur das Silber in ihrem dicken schwarzen Haar hatte mit der Zeit zugenommen.
    Ihr Bruder Eduard trat aus dem Salon, um Anna ebenfalls willkommen zu heissen. Er war immer noch jeden Tag in der Brennwald’schen Kunst- und Antiquitätenhandlung anzutreffen, obwohl er das Geschäft an seinen Neffen übergeben hatte.
    «Ich hoffe, Sie sind wohlauf, Fräulein Staufer», meinte er augenzwinkernd, «denn Sophie hat dafür gesorgt, dass Sie über die nächsten Wochen wieder alle Hände voll zu tun haben.»
    Ruhiger und zurückhaltender als seine Schwester, bildete er einen perfekten Gegenpol zu ihrem quirligen Temperament. Es entwickelte sich ein

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