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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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gesprächig, er hatte gerade eine gute Kundin und Freundin verloren, und der Verlust hat ihm sehr zu schaffen gemacht. Jetzt geht es wieder etwas besser. Es macht ihn einfach glücklich, wenn er diese Welt, die ihm so viel Freude bereitet, mit jemandem teilen kann.»
    Sie hatte natürlich auch ihre Liebhabereien, wenngleich sie sich gegen das Wort verwahrt hätte. Sie war eine eifrige Kämpferin für den Sozialismus, die Sache der Frau und wie die Zukunft im Zusammenleben der beiden Geschlechter aussehen sollte.
    So lauschte Anna schockierenden Ausführungen, wie die kapitalistische Wirtschaftsordnung und das städtische Leben für die Deformierung des männlichen Geschlechtslebens verantwortlich seien; dass der Kampf um das Frauenstimmrecht blosse Spielerei der Bourgeoisie sei; dass die klassenlose Gesellschaft den untergeordneten Status der Frau aus der Welt schaffen würde und es nun an den Männern lag, sich mit Hilfe der Frauen eine neue geschlechtliche Identität zu schaffen.
    An einem windigen Oktoberabend waren sie wieder einmal alle im Salon versammelt. Fräulein Brennwald war an diesem Nachmittag an einem weiteren Vortrag – dieses Mal zum Thema «Moderner Krieg und Heroismus» – gewesen. Anna hatte darauf beharrt, bei ihrer Arbeit zu bleiben, denn sie wollte vor ihrer baldigen Rückkehr ins Splendid so viel wie möglich erledigt haben. Und nun brannte Fräulein Brennwald darauf, ihr die wesentlichen Punkte des Referats darzulegen.
    «Wir brauchen ein neues Ideal von Männlichkeit, eines, das sich nicht an der primitiven physischen Überlegenheit orientiert und im Krieg das beste Werkzeug sieht, Männer zu formen. – Der Krieg ist nichts als Barbarei und bringt nur Barbaren hervor.»
    «Tja, ich weiss nicht, Sophie», sagte Herr Brennwald, der sich normalerweise bei diesen Vorträgen mit einer Pfeife hinter seine «Neue Zürcher Zeitung» zurückzog. «Ich fürchte, diese Ansicht über den Krieg bleibt vorderhand Frau von Suttner und ihren Anhängern vorbehalten. Der Rest der Menschheit sieht ihn immer noch als prächtiges Werkzeug, Mannesmut zu entwickeln und zu zeigen. Den Militarismus werden wir so schnell nicht los, oder hast du etwa schon vergessen, mit welcher Begeisterung sogar hier in unserem friedlichen Land das Kaisermanöver im vorigen Jahr begrüsst wurde?»
    «Das ist nur so, weil die Menschen es nicht besser wissen. Der moderne Krieg kennt keinen Platz für Tapferkeit und Mut. Wer die besten Waffen hat, wird gewinnen. Physische und moralische Überlegenheit zählen nichts mehr. Selbst der grösste und stärkste Krieger kann durch eine Kugel oder eine Granate gefällt werden.»
    «Da magst du wohl recht haben, doch es hilft nichts, die meisten Menschen haben von diesen Dingen keine Ahnung, und jedem Versuch, das zu ändern, stehen mächtige Interessen gegenüber.» Herr Brennwald faltete die Zeitung und legte sie zur Seite. «Sieh dir die Gewinne an, die sich mit der modernen Kriegsrüstung erwirtschaften lassen. Doch selbst wenn dem nicht so wäre – der Mensch ist ein Herdentier, getrieben vom Instinkt. Der ganze Kontinent folgt blind nationalistischen Ideologien – da ist der Krieg nur das Feuer, in dem die angeblich stärkste Nation geschmiedet wird. Und alle glauben sie, das wäre ihr Land; Männer wie Frauen. Eine Welt ohne Krieg, in der sich alle Männer als Künstler und Wissenschaftler neu erfunden haben, das ist eine Utopie.»
    Anna stimmte ihm zu, sie hatte der Diskussion am Fenster sitzend gelauscht und dabei beobachtet, wie ein Herbststurm den sonst so ruhigen See aufwühlte. Sie glaubte nicht daran, dass sich Menschen – Männer wie Frauen – so grundlegend ändern konnten.
    Das Fräulein fuhr indes unbeirrt fort. «Noch nie hat die Menschheit solche Fortschritte in allen Bereichen gemacht wie heute. Es muss doch möglich sein, auch hier Veränderungen zu erreichen. Was sagen Sie, Anna?»
    Anna wandte ihren Blick vom See ab. «Vom modernen Krieg verstehe ich nicht viel, aber ich sehe, wie die Herrschaften verschiedenster Nationalität im Hotel miteinander umspringen. Meistens geben sie sich ganz zivilisiert, doch manchmal verrutscht die Maske, und was darunter zum Vorschein kommt, ist nicht schön.»
    «Da hast du’s», sagte Herr Brennwald, «sozusagen aus erster Hand.»
    «Anna bekommt nur die feinen Herrschaften zu sehen», meinte Fräulein Brennwald, «die einfachen Menschen, die Arbeiter sind es, die wir erreichen müssen. Sie werden die Ersten sein, von denen

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