Chiffren im Schnee
gefunden hatte. Aus der zuerst förmlichen Bekanntschaft wurde mit der Zeit Freundschaft, und über die Jahre hatte Fräulein Brennwald Anna mehr als einmal mit gutem Rat zur Seite gestanden. Nicht zuletzt war es ihr zu verdanken, dass Anna den Mut gehabt hatte, nach England zu gehen, als sich ihr dazu unverhofft die Gelegenheit bot. Und Anna hatte es nicht bereut, die beiden Jahre in London zählte sie zu den glücklichsten ihres Lebens. Allein schon dafür hätte sie diese Lebenserinnerungen mehrmals abgetippt.
Herr Brennwald erschien in der Tür. «Das Abendessen ist serviert, und Frau Hofer wird demnächst ungnädig. Du gedenkst doch, Fräulein Staufer essen zu lassen, meine Liebe?»
Die nächsten Wochen verbrachte Anna viele Stunden im Bureau, doch Fräulein Brennwald beharrte darauf, dass sie jeden Tag an die frische Luft kam. Ein kurzer Spaziergang im Arboretum, eine Einkaufstour im prächtigen Glaspalast des Jelmoli, ein Ausflug mit einem Dampfer auf dem See – dem Fräulein fiel immer etwas ein.
Sie war auch der Ansicht, dass Anna für all die Monate, die sie zwischen den Bergen verbrachte, entschädigt werden müsse.
«Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Anna», sagte sie eines Tages, «aber ich kann mir nicht helfen – wenn man sein ganzes Leben nur von diesen felsigen Monstren umgeben ist, dann hat das auch Auswirkungen auf den Geist, eine beengte Umgebung schafft eine beengte Weltsicht. Sogar hier – angeblich im Flachland», mit einem Schnaufen deutete sie in Richtung der Alpen, «scheint diese Enge noch zu wirken.»
Zweifellos machte sie die Berge auch für die Engstirnigkeit ihrer Eltern verantwortlich. Auf ihren vielen Reisen hatte sie denn auch nur selten Berge photographiert.
Anna hatte sich schon bei ähnlichen Gedanken ertappt. Und doch vermisste sie die «felsigen Monstren», wenn sie diese nicht wenigstens am fernen Horizont erspähen konnte. Der Mensch sehnte sich wohl immer nach jenen Dingen, die er nicht haben konnte.
Während Annas Finger über die Tastatur der Schreibmaschine huschten, dachte sie viel an ihre Zeit in London. Sie liebte die grosse Stadt mit den prächtigen Strassen und Gebäuden und – nicht zu unterschätzen – den Museen und Bibliotheken. Vor allem der englische Sommer hatte es ihr angetan. Die laue Luft in den grossen Parkanlagen, der Duft von Blumen und frisch geschnittenem Gras inmitten der voller Leben pulsierenden Stadt – selten hatte Anna sich so lebendig gefühlt wie in diesem Widerspruch. Sie mochte auch den oft beklagten Regen, der sanfte Kühlung brachte und die staubige Luft in den Strassenklüften reinwusch.
Doch der englische Winter, der nur aus Nebel und Dunkelheit zu bestehen schien, war kaum zu ertragen gewesen, vor allem, wenn man in dieser Jahreszeit an den Anblick einer im Sonnenlicht weiss und kalt glitzernden Welt gewöhnt war.
Nun fragte sich Anna, ob sie London jemals wiedersehen würde. Und hinter dieser Frage lauerten weitere beunruhigende Fragen. Sie hatte gehofft, diese mit dem Splendid hinter sich lassen zu können und für eine Weile den Gefühlen der Ausweglosigkeit und des Gefangenseins, die sie in letzter Zeit so geplagt hatten, entgehen zu können. Doch Fräulein Brennwalds Reisetagebücher waren für eine solche Flucht die denkbar schlechteste Lektüre.
Die Brennwalds liessen ihr allerdings nicht viel Zeit für schwermütige Gedankengänge. Es verging kaum ein Tag, an dem sie Anna abends nicht zu Konzerten, Theater- und Lichtspielvorführungen, Ausstellungen und Vorträgen mitnahmen.
Anna zog allerdings die ruhigen Abende im Salon vor. Manchmal holte Herr Brennwald eines der Stücke seiner privaten Kunstsammlung hervor und erläuterte dessen Technik und Symbolik. Er hatte sich im Familiengeschäft schon früh auf fernöstliche Kunst spezialisiert und war auch jetzt noch für diesen Geschäftszweig zuständig. Er zeigte Anna zarte chinesische Tuschmalereien und bunte japanische Holzschnitte, erklärte ihr, dass die seltsamen Kringel auf den Bildern Schriftzeichen waren und die roten Symbole die Stempel, mit denen die Künstler ihre Werke signierten. Er breitete auf den Tischchen Bücher und Kunstdrucke aus, um Anna darzulegen, wie die fernöstlichen Künstler die Werke ihrer westlichen Zunftgenossen beeinflussten.
Eines Abends, als er seine Schätze wegräumte, meinte Fräulein Brennwald leise zu Anna: «Ich bin ja so froh, dass Sie das nicht langweilt. Als Sie im Frühjahr hier waren, war Eduard nicht so
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