Chiffren im Schnee
spielerisches Streitgespräch zwischen den Geschwistern, das von lebenslanger Vertrautheit und Freundschaft zeugte.
Als junges Mädchen hatte Sophie Brennwald an der Kunstakademie in München studieren wollen. Die Eltern hatten das skandalöse Ansinnen natürlich abgelehnt. Eduard schenkte der Schwester darauf zum Trost eine Kamera und besiegelte damit ihr Schicksal. Statt brav auf einen Mann zum Heiraten zu warten, vertiefte sich Sophie in die neue Kunst. Sie begab sich – vom Bruder ermuntert – mit der Kamera auf Reisen um die Welt und verkaufte ihre Aufnahmen sehr erfolgreich unter einem männlichen Pseudonym an Zeitschriften und Verlage.
Vor drei Jahren hatte ihr Bruder, der ebenfalls ledig geblieben war, die geräumige Villa am anderen Ufer des Sees für den Neffen und dessen Familie geräumt, und seither lebten die beiden Geschwister einträchtig zusammen im Weissen Schloss und zeigten wenig Neigung, den gängigen Vorstellungen vom sauertöpfischen alten Mädchen und dem verbitterten Hagestolz nachzukommen.
Fräulein Brennwald beendete das angeregte Gespräch über ihre Arbeitsmethoden damit, dass sie ihren Bruder ausschickte nachzusehen, ob das Abendessen bereit sei. Zu Anna gewandt meinte sie: «Es ist keineswegs so schlimm, wie er behauptet. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wie weit ich seit dem Frühling gekommen bin.»
Das Fräulein mochte kaum warten, bis Anna abgelegt hatte, um sie in das Bureau zu führen. Den Raum durchdrang eine verlockend atemlose Unruhe, der grosse Schreibtisch war unter einem Meer von Papier- und Bücherstapeln und Fotoabzügen verschwunden. Die Wände entlang zogen sich hohe Kabinettschränke, die bis an die mit Stuckatur verzierte Decke reichten. Fast alle standen offen, weil Fräulein Brennwald wohl wieder einmal eine ganz bestimmte Photoplatte gesucht hatte. Auf einer Fensterbank ruhte vereinsamt, aber sorgfältig abgestaubt, eine Continental-Schreibmaschine.
Fräulein Brennwald hatte sich von einem der vielen Komitees, in denen sie Einsitz nahm, überreden lassen, ihre Memoiren zu verfassen, um damit jungen Frauen Mut zu machen, ihren Weg zu gehen. Es war eine hervorragende Idee, nur war sie kein sehr systematischer Mensch. Zwischen Reisenotizen und Tagebüchern, Briefen und Broschüren hatte sie sich schon bald verloren. Und obwohl sie mit den diffizilen Photo-Apparaturen bestens klarkam, wollte sich ihr die Mechanik der enthusiastisch erstandenen Schreibmaschine nicht erschliessen. Da hatte ihr Bruder vorgeschlagen, sich Hilfe zu holen, und zwar bei jemandem, der sich mit Ordnungschaffen auskannte: Fräulein Staufer.
So hatte Anna dieses Frühjahr die ersten Kapitel abgetippt und das entsprechende Bildmaterial aussortiert und in Karteikästen gesammelt. Bei ihrer Abreise nach Sternenbach hatte sie ein geordnetes Bureau zurückgelassen: die Tage- und Notizbücher für die nächsten Kapitel auf einer Seite des Schreibtisches, die zur Auswahl stehenden Photographien auf der anderen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich dieser Zustand lange halten würde.
Fräulein Brennwald schwankte zwischen Zerknirschung und Rechtfertigung. «Sie hatten das im Frühjahr alles so schön getippt und geordnet, aber inzwischen ist mir halt doch wieder einiges eingefallen.» Sie eilte zum Schreibtisch und legte jene verwirrende Vertrautheit mit dem Chaos an den Tag, die unordentlichen Menschen zueigen ist; treffsicher zog sie einen Stapel Papierbögen unter einem turmähnlichen Gebilde von Notizbüchern, Alben und weiteren Unterlagen hervor. «Sehen Sie, ich habe alle Änderungen ganz fein säuberlich vermerkt – ja, ich weiss, das bedeutet, dass Sie einiges nochmals tippen müssen, bevor wir uns an die neuen Kapitel machen können.»
Auf etlichen Bögen waren mit Stecknadeln lange Papierstreifen angeheftet, über die sich ihre enge, kleine Schrift zog. «Eduard meint, ich sollte mich schämen, Ihnen so viel zusätzliche Arbeit aufzubürden. Und ich habe mir auch schon überlegt, eine Bureau-Mamsell einzustellen, aber Sie verstehen immer ganz genau, was ich meine, und beklagen sich nie über meine Handschrift.»
Anna schuldete ihr zu viel, um über ein paar Seiten, die sie nochmals tippen musste, verärgert zu sein. Sie hatten sich bei einer Veranstaltung der Union für Frauenbestrebungen kennengelernt. Fräulein Brennwald war das junge, schüchterne Zimmermädchen aufgefallen, das gerade eben vom Land in die Stadt gekommen war und doch bereits seinen Weg in die Versammlungshalle
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