Chiffren im Schnee
unterbrochen von müdem Hufgeklapper, klangen von der Strasse zu ihr herauf. Es war nicht schwer, sich ein Leben in Einsamkeit vorzustellen.
***
Die Wochen in Zürich waren schnell vergangen. Die Schneefelder auf den fernen Gipfeln streckten langsam ihre eisigen Fingerspitzen die Hänge hinunter; der Winter stand vor der Tür. Gegen Ende Oktober ordnete Anna Fräulein Brennwalds Bureau: Auf dem Schreibtisch lagen nun mehrere Aktenordner, in denen das Manuskript der Memoiren nach Stand der Bearbeitung abgeheftet war. Die Schreibmaschine kehrte auf ihren Platz auf dem Fenstersims zurück. Wie es hier bis zum Frühling aussehen würde, mochte Anna sich lieber nicht ausmalen.
Sie verabschiedete sich von den Brennwalds, die sie wie üblich nicht ohne etliche neue Bücher in ihrer Reisetasche ziehen liessen.
Als der Zug aus dem Bahnhof fuhr, suchte Anna ihr Notizbuch hervor und schrieb die erste Liste dazu, was alles bei ihrer Rückkehr ins Splendid zu erledigen wäre. Nach Wochen des oft beunruhigenden Nachdenkens sehnte sie sich nach der emsig geordneten Welt des Hotels zurück, die kaum Zeit für Fragen ohne Antwort liess – zumindest hoffte sie das. Als sie beim Blättern auf die Schadensliste in der Kleinen Suite stiess, wandte sie die Seite schnell um.
***
«Grundgütiger – hast du diese Aussicht gesehen?» Hastings stand am Fenster des Salons und starrte über den See auf die Bergkette am Horizont. Die Gipfel schienen den Betrachter aus dunstiger Höhe zu sich zu rufen.
«Verstehst du nun, warum ich dorthin will?» Christian hatte sich von der Reise müde in einen der tiefen Fauteuils in Tante Elinors Salon gesetzt. Er wollte lieber nicht daran denken, wie er daraus wieder hochkommen sollte. Der Schlafwagen war eine Tortur gewesen.
«Natürlich. Ich finde nur, dass du dir nach allem etwas mehr Zeit nehmen solltest, dich hier einzuleben, dein Erbe durchzusehen und dich zu erholen.»
Sein Erbe … Christian blickte um sich. Seine Tante hatte ihm ein exquisit eingerichtetes Haus hinterlassen, in dem alles ihre Handschrift trug. Es gemahnte an ein Schmuckkästchen. Wie viele ihrer Zeitgenossen hatte sich Tante Elinor für Japonaiserie und Chinoiserie begeistert, aber sie hatte ihr Geld nicht an billige Nachahmungen und Kitsch verschwendet. Den Salon zierten Koromandel-Wandschirme, kostbare chinesische Vasen, mit phantastischen Berglandschaften und Blumen bemalte Fächer und Wandbehänge aus Seide. In feingliedrigen Etageren lagerten Lackdosen, Jade-Kämme, mit Goldprägungen verzierte Tuschsteine und aufwendig geschnitzte Siegel.
Als Christian Tante Elinor zum ersten Mal besucht hatte, war er von dem Anblick überwältigt gewesen. Später allerdings hatte er sich gefragt, ob die vielen Objekte nicht dazu dienen sollten, Erinnerungen zu verdrängen. Es gab im Haus keine Bilder von Georgiana und Frederick.
Tante Elinor hatte das grosse Rätsel nie für ihn aufgelöst. Als sie aus seinem Leben und dem Leben ihrer Kinder verschwand, war Christian noch ein kleiner Junge gewesen, vor dem man den Skandal in hastig abgebrochenen Sätzen verbarg, wenn er unerwartet den Raum betrat. Über die Jahre war die Tante für ihn zu einer blassen Erinnerung an Lachen und funkelnde Juwelen geworden.
Vor drei Jahren hatte ihn eine Einladung in die Schweiz erreicht, der er damals nur nach einigem Zögern gefolgt war. Tante Elinor bat ihn, sich ein paar japanische Farbholzschnitte, die sie kaufen wollte, zu begutachten. Christian hatte gewusst, dass das nur ein Vorwand war. Ihre Kenntnisse japanischer Kunst waren mindestens so gut wie seine eigenen. Zu seiner Überraschung hatte sich bei seinem Besuch schnell ein Gefühl tiefer Vertrautheit eingestellt; vielleicht weil es so einfach gewesen war, die Tochter in der Mutter zu sehen.
Tante Elinors Kinder und Christians Tätigkeit in der Navy waren die einzigen Themen, vor denen sie sich beide bei seinen Besuchen in acht nahmen. Sie fragte ihn nie nach Georgiana und Frederick. Ein oder zwei Mal machte Tante Elinor eine Bemerkung, aus der Christian schloss, dass sie mit irgendjemandem aus der Familie in Kontakt stand. Er hatte Paget, Georgianas unerschütterliche Zofe, im Verdacht. Dass die Antworten auf Fragen nach seinem Dienst nichtssagend und ausweichend waren, hatte sie schnell bemerkt und nur gemeint: «Mein Junge, ich bin keine Närrin. Ich weiss, dass du alle diese fremden Sprachen sprichst und dass die Admiralität dich gerne um die Welt schickt. Ich kann mir schon
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