Chiffren im Schnee
dir, dass du in den Bergen findest, was auch immer du suchst.»
Nach diesem unerwartet poetischen Abschied blieb Christian alleine im Haus zurück. Er trat auf den Balkon und sah der Droschke nach, die Hastings zum Bahnhof brachte. Mit leichtem Unwillen kehrte er in den Salon zurück. Die verspielte Atmosphäre in dem überfüllten Zimmer müsste Georgiana eigentlich gefallen – wenn denn jemand anderes als ihre Mutter den Raum eingerichtet hätte. Christian hingegen fühlte sich von den vielen Objekten eher bedrängt. Zum Glück würde er am nächsten Tag nach Sternenbach aufbrechen.
Er ging in sein Schlafzimmer und öffnete die von Frau Haag gepackte Tasche nochmals. Doktor Fuller hatte darauf bestanden, dass Christian das verhasste silberne Etui mitnahm. Er steckte es in eine Seitentasche. Seine Luger legte er in ihrem Holster unter das Waschzeug. Manche Kollegen hatten seine Waffenwahl mit Naserümpfen bedacht, doch er fand Zielgenauigkeit und Handlichkeit wichtiger als eine patriotische Herkunft.
Die Fahrt von Zürich nach Sternenbach war im Vergleich zu der langen Reise in die Schweiz nicht sonderlich mühsam. Christian musste nur darauf achten, dass er beim Umsteigen den Anschlusszug nicht verpasste. Schliesslich sass er in der kleinen Bahn, die sich mit erstaunlicher Zähigkeit gegenüber den Gesetzen der Schwerkraft einen steilen Berghang hinaufkämpfte.
Schon als kleiner Junge hatte er die Berge sehen wollen und sich vorgestellt, wie phantastisch es im Winter sein musste, wenn die ganze Welt sich in eine einzige Sinfonie aus Weiss verwandelte. Von der Sinfonie in Weiss war allerdings nicht viel zu sehen, es lag nur ein dünner Flaum, der auf den Strassen und Pfaden schon geschmolzen war. Aber, so hatte ihm ein Mitreisender erklärt, das würde sich schon bald ändern. Der Mann fügte hilfreich hinzu, dass es nach Schnee rieche. Christian war zu lange auf See gewesen, um über Leute zu lachen, die behaupteten, einen Wetterumschwung riechen zu können.
Am Bahnhof wartete bereits ein Gepäckträger, der ihn zu einer kleinen, eleganten Kutsche führte. Das Hotel war glücklicherweise nicht weit entfernt. Der Direktor begrüsste Christian persönlich und führte ihn zur Suite, wo bereits der Concierge und der zukünftige Valet warteten. Der sichtlich nervöse Bursche brachte nur mit einiger Mühe heraus, dass ein Bad eingelassen und Tee und Sandwichs geordert wären.
Christian bedankte sich für den freundlichen Empfang, und Direktor und Concierge verabschiedeten sich. Sein Valet half ihm – geschickter als erwartet – beim Ablegen des Mantels. Doch Christian hatte zu starke Schmerzen, um sich auf weitere Experimente einzulassen, und beschloss, fürs Erste lieber ohne Hilfe zurechtzukommen.
«Wunderbar – ich danke Ihnen vielmals, aber ich möchte mich gleich hinlegen und denke nicht, dass ich heute noch Ihrer Dienste bedarf. Und morgen hätte ich gerne Kaffee zum Frühstück, ich werde wahrscheinlich sehr lange schlafen und möchte nicht gestört werden. Ich werde nach Ihnen läuten.»
Sichtlich erleichtert verschwand der junge Bursche im Schlafzimmer, zog die Vorhänge zu und schlug das Bett auf. Er wollte auch noch die Reisetasche auspacken, doch Christian beharrte darauf, das selbst zu tun.
Das Auskleiden war mühselig, aber er hatte es in den vergangenen Tagen auch alleine erledigt. Bevor er müde ins Bett sank, bemerkte er noch, dass Hiroshiges «Abendschnee» seinen Wünschen entsprechend aufgehängt worden war. Er warf einen Blick auf das verschneite Dorf an der Wand und machte das Licht aus.
Anna hätte eigentlich bei der Begrüssung des wichtigen Gastes zugegen sein müssen, aber sie wurde kurz davor weggerufen: Louise Eberhardt hatte einen Unfall erlitten.
Das Fräulein hatte auf einer ihrer einsamen Wanderungen versucht, eine Abkürzung über die Stosshalde zu nehmen. Auf dem steilen Abhang wurden im Sommer Schafe und Ziegen geweidet, doch jetzt lag auf dem alten Gras eine dünne Schneeschicht – auf blossem Eis hatte man mehr Halt. Es kam, wie es kommen musste.
Zwei Bauern, die am Waldrand arbeiteten, eilten zu Hilfe und brachten die junge Frau mit ihrem Fuhrwerk zum Splendid. Dort bestand sie darauf, alleine durch einen Seiteneingang ins Hotel zu gehen. Die Männer liessen sie ziehen, doch dann kamen dem älteren doch Zweifel, und er wagte sich ins Vestibül vor. Herr Ganz, der eigentlich schon auf dem Weg in die Kleine Suite war, hatte umgehend nach Fräulein Staufer schicken
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