Chiffren im Schnee
sich über Lieutenant Wyndham und Jost Gedanken zu machen. Sie kümmerte sich um Fräulein Eberhardt, die die Anweisungen des Doktors widerspruchslos befolgte, dabei aber immer mehr verstummte. Sie starrte die meiste Zeit mit leerem Blick aus dem Fenster. Ihr Körper erholte sich zwar, aber ihr Geist schien sich immer weiter zu entfernen von dem unsäglichen Geschwätz ihrer Mutter, die wie ausgewechselt war und von nichts anderem zu reden wusste als der bald anstehenden Hochzeit. Es war kaum auszuhalten.
Louise Eberhardt hatte wohl mit Wissen, vielleicht sogar auf Drängen der Mutter Gesundheit und Leben riskiert, um einen Skandal zu verhindern. In der Stadt taten Dienstmädchen und Arbeiterfrauen oft dasselbe, wenn sie einer jener dubiosen Kleinanzeigen vertrauten, welche eine «Wiederherstellung der Monatsblutung» anpriesen.
Fräulein Eberhardt erhielt immerhin medizinischen Beistand – doch selbst für eine Tochter aus gutem Hause galten dieselben grausamen Regeln. Für einen Fehler, den sie nicht alleine begangen hatte, musste sie alleine büssen.
Es war eine unsägliche Scharade, und Anna war auf sich selbst zornig, weil sie ihren Part wie alle anderen widerspruchslos spielte und so tat, als wäre Louise Eberhardt nur «unpässlich», statt sie in den Arm zu nehmen und ehrlich mit ihr zu reden.
Dazu kamen noch all die Vorbereitungen für die Festtage, die langsam zunehmende Gästeschar mit ihren vielen Wünschen und Kümmernissen und die üblichen kleinen und grossen Zänkereien zwischen dem Personal. Anna lief an manchen Tagen übernächtigt und fast wie im Traum durch das Haus, wobei sie sich mehr denn je auf ihr Notizbuch verließ, damit ja nichts vergessen ging.
Eines Morgens, sie hatte eben nach Fräulein Eberhardt gesehen, begegnete ihr Jost im Treppenhaus. Er war gerade bei Herrn Brehm gewesen, um Chrysanthemen zu besorgen – die Lieblingsblumen des Lieutenants, wie er Anna wissen liess.
«Und er nennt mich Ammann – das machen die englischen Herrschaften so mit ihren Valets und Zofen, sie rufen sie bei den Nachnamen, nicht den Taufnamen. Das ist nicht unhöflich, sondern eine Auszeichnung. Ich bin jetzt ein ‹Gentleman’s Gentleman› – na ja, ich bin dabei, einer zu werden.»
Er eilte mit den Blumen die Treppe hinauf, und Anna blickte ihm erleichtert nach. Sie war dem Lieutenant dankbar; er schien den richtigen Ton gefunden zu haben. Ein wenig neugierig war sie schon auf den Herrn, zumal ihr auch das Getuschel der Zimmermädchen nicht entgangen war.
Christian vermisste zwar den Schnee, aber ansonsten gefiel ihm sein neues Zuhause. Er begann schon am ersten Tag nach seiner Ankunft mit den ersten Übersetzungsversuchen. Dass die Dame Ono no Komachi direkt über seinem Pult hing, betrachtete er als gutes Omen. Die Räume waren mit viel Umsicht eingerichtet worden, das hatte er bereits bei seiner Ankunft bemerkt. Sein Valet erwies sich zwar als geschickter als erwartet, trotzdem war Christian sich sicher, dass nicht Ammann für die Einrichtung der Suite verantwortlich war.
Als er schliesslich Ammann gegenüber die Einrichtung des Lesezimmers lobte, meinte dieser: «Das hat Fräulein Staufer so gemacht. Sie mag Bücher, und als die Schränke ausgepackt wurden, hat sie die keine Minute aus den Augen gelassen. Am liebsten hätte sie wohl alles gleich selber gelesen. Wenn sie nicht arbeitet, hat sie die Nase nämlich immer in einem Buch.»
Es war Christian nicht entgangen, dass ein «Fräulein Staufer» des Öfteren in hitzigen Diskussionen zwischen Ammann und den Zimmermädchen auftauchte. Christian sprach zwar Deutsch, aber die Schweizer Variante bereitete ihm noch Mühe. Der Inhalt dieser Gespräche war trotzdem zu erraten: Anscheinend nahmen die Mädchen nur ungern Anweisungen oder Kritik an ihrer Arbeit von Ammann entgegen, aber der schnippische Ton änderte sich jeweils, wenn die magischen Worte «Fräulein Staufer» fielen.
Nachdem Ammann seine anfängliche Scheu überwunden hatte, plauderte er ganz gerne und schilderte in holprigem Englisch das Leben hinter den Kulissen des Hotels. Christian brachte es nicht übers Herz, ihm zu erklären, dass das Personal und seine Leidenschaften und Eigenheiten kein angemessenes Gesprächsthema für einen Gentleman waren. Er war im Gegenteil dankbar, dass das Splendid ihm keinen perfekten Valet zur Seite gestellt hatte. Sein Rücken war über die letzten Tage schlimmer geworden. Ammanns Anekdoten und Episoden lenkten ihn mehr als seine Bücher
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