Chiffren im Schnee
lassen und auch nicht vergessen, dem Mann eine Belohnung anzubieten, die dieser empört abgelehnt hatte.
Anna fand Louise Eberhardt in ihrem Zimmer, bis zum Kinn zugedeckt im Bett und kaum noch ansprechbar. Als Anna das Laken anhob, sah sie, dass die junge Frau noch so viel Verstand besessen hatte, ein paar Handtücher dorthin zu pressen, wo sie gebraucht wurden. Anna eilte aus dem Zimmer, um Doktor Reber zu telefonieren.
Er brauchte keine grossen Erklärungen. Nach ein paar knappen Anweisungen beendete er das Gespräch, ohne sich zu verabschieden. Anna lief in die Bar und bat Henning um seinen ganzen Eisvorrat, verschwand damit nach oben und besorgte aus der Wäschekammer noch mehr Handtücher.
Inzwischen hatte sich auch Frau Eberhardt eingefunden. Sie war keine grosse Hilfe; sie stand am Fenster, schluchzte leise in ein Taschentüchlein und stiess immer wieder hervor: «Ach, Louise – es wird schon alles wieder gut.»
Anna beförderte sie schliesslich etwas unsanft aus dem Raum, rief eines der Zimmermädchen herbei und befahl ihm, bei Frau Eberhardt zu bleiben, bis der Doktor mit der Untersuchung fertig wäre.
Als Doktor Reber eintraf, hatte Anna bereits eine erste kalte Kompresse aufgelegt. Er arbeitete schnell und schweigsam, während sie ihm assistierte. Als er fertig war, verliess sie das Zimmer, damit er alleine mit seiner Patientin reden konnte.
Frau Eberhardt hatte sich inzwischen mit einer Bekannten auf ihr Zimmer zurückgezogen. Anna begleitete den Doktor zu dem unangenehmen Gespräch mit der Mutter, doch wie viel diese von dem verstand, was er knapp mit «Blutungen, hervorgerufen durch ein Übermass an körperlicher Aktivität» umschrieb, stand in den Sternen.
«Was soll ich denn nur ihrem Vater und ihrem Verlobten sagen?» Händeringend wiederholte Frau Eberhardt ständig diesen einen Satz, das war alles, was sie beschäftigte.
«Sie können den Herren mitteilen, dass Fräulein Eberhardt eine untadelige Braut abgeben wird, sollte sie das hier überstehen», antwortete der Doktor eisig.
Frau Eberhardt schien den verborgenen Sinn seiner Worte nicht zu bemerken. Die Dame, die sich um sie kümmerte, warf ihm hingegen einen entrüsteten Blick zu, bevor sie sich wohl still ermahnte, dass es hier gar keinen Grund zur Entrüstung geben durfte. Der Doktor kündigte an, in den nächsten Tagen regelmässig vorbeizukommen, und verabschiedete sich mit einem Minimum an Höflichkeit.
Danach gab er Anna letzte Anweisungen unter vier Augen. «Sie muss unbedingt im Bett bleiben. Sorgen Sie dafür, dass sie weiter kalte Umschläge erhält, und sie muss essen – leichte Kost, aber mehr als nur ein paar Bissen. Und ab morgen zu jeder Mahlzeit ein kleines Glas Rotwein. Achten Sie darauf, dass die richtige der beiden Damen Eberhardt das Glas austrinkt, und rufen Sie mich sofort, wenn die Blutungen wieder einsetzen sollten.»
Er wirkte aufgebracht, und für einen Moment sah es so aus, als würde er sich doch zu einer Indiskretion hinreissen lassen, doch schliesslich gewann sein Berufsethos die Oberhand. Er dankte Anna für ihre Hilfe und verabschiedete sich von ihr um einiges herzlicher als von Frau Eberhardt.
Beim Abendessen war die Episode das Hauptthema. Irgendein romantisches Gemüt hatte beschlossen, dass das Fräulein sich aus unglücklicher Liebe die Halde hinuntergestürzt hatte, und alle waren sehr gerührt. Das war, was Herrn Ganz und Anna betraf, eine gute Variante der Wahrheit, und so beliessen sie es nur bei ein, zwei kurzen Ermahnungen, nicht so viel zu tratschen.
Anna hatte den neuen Gast nicht vergessen. Sie erkundigte sich bei Herrn Ganz nach dem Wohlbefinden von Lieutenant Wyndham.
«Ich weiss nicht, er sah etwas angeschlagen aus.» Herr Ganz seufzte, wahrscheinlich sah er seine Bedenken bestätigt. «Aber ich nehme an, die Reise war nicht gerade gut für seinen Rücken.»
«Und wie hat sich Jost gehalten?»
Er holte tief Luft. «Sie werden es nicht glauben, Fräulein Staufer. Aber als ich ein paar Minuten vor Lieutenant Wyndhams Ankunft in der Kleinen Suite vorbeischaute, da war weder Tee noch Sandwichs geordert. Und von einem heissen Bad keine Spur. Der Bursche hatte lediglich die Zimmer gelüftet! Ich musste ihm ordentlich Beine machen. Nun, ich fürchte, es liegt jetzt in den Händen des Lieutenants. Manche Offiziere wissen ja genau, wie man nervöse Burschen in den Dienst einweist. Hoffen wir das Beste.»
Die nächsten Tage über war Anna so beschäftigt, dass sie kaum Zeit hatte,
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