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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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von den Schmerzen ab, die sich immer tiefer in seine Gedanken bohrten, nach Erleichterung verlangend.
    Doch endgültig neugierig auf das Fräulein Gouvernante wurde Christian, als Ammann eines Tages einen der vielen Zettel aus der Hosentasche zog, auf dem ihm diese rührige Dame Anweisungen erteilt hatte. Stirnrunzelnd las er und meinte dann: «Da hat Fräulein Staufer mir einen Zettel gegeben, auf den sie auf der Rückseite schon etwas notiert hat. Aber das klingt ziemlich unsinnig – ich möchte wissen, was sie sich dabei gedacht hat.»
    Alte Gewohnheiten liessen sich nur schwer ablegen, und so bat Christian, das Blatt sehen zu dürfen. Unter der Titelzeile «Was einen innehalten lässt» befanden sich folgende Einträge: «Ein Königsmilan im Flug – Der Duft von Schnee, der bald fallen wird – Der aufgehende Mond – Ein Lachen in der Nacht – Das erste Donnergrollen eines noch fernen Sommergewitters.»
    Er starrte diese erstaunliche Liste sprachlos an, dann fragte er Ammann, ob er den Zettel behalten dürfe.
    «Aber natürlich, auf der Vorderseite steht, wie man richtig serviert, und das kann ich nun ja wirklich.»
    Christian legte das Blatt in eine Ausgabe des Kopfkissenbuchs der Dame Sei Shonagon, einer anderen grossen Liebhaberin eigentümlicher Listen. Er fragte sich, wann er die Gouvernante wohl endlich zu Gesicht bekommen würde. Sie war bisher eine genauso flüchtige Erscheinung wie der Schnee.
    Erst Mitte Dezember setzte schwerer Schneefall ein, der mehrere Tage lang anhielt. Für Anna bedeutete das zusätzliche Arbeit. Die Gäste ruinierten ihr unzureichendes Schuhwerk auf langen Ausflügen, trugen ständig Schnee ins Haus und beklagten sich dann bitter über aufziehende Erkältungen. Sie scheuchte Stubenmädchen mit Schaufel, Besen und Lappen durch das Haus, schickte Pagen zum Schuhmacher und orderte Wärmflaschen und Grog für die abenteuerlustigen Herrschaften, die nun den Preis für ihre Unerfahrenheit mit der weissen Pracht bezahlten. Sie kam nicht einmal dazu, den Winter und seine Stille auf einem kurzen Spaziergang während der Zimmerstunde willkommen zu heissen, wie sie es sonst gerne tat.
    Endlich reisten die Eberhardts ab. Anna geleitete die beiden nach unten, und während die Mutter im Direktions-Bureau die Rechnung beglich, leistete Anna der Tochter Gesellschaft. Fräulein Eberhardt war aus dem Vestibül in den Windfang geflohen, wo sie nun reglos in der kalten Zugluft stand. Es schien, als wäre sie selbst zu Eis erstarrt.
    Auf einmal hielt es Anna nicht mehr aus. Sie griff nach der Hand der jungen Frau und drückte sie fest. «Es tut mir ja so leid.»
    Louise Eberhardt starrte sie nur an und entzog ihr dann mit leerem Blick die Hand. Frau Eberhardt kam aus dem Bureau und verabschiedete sich wortreich vom Direktor. Für Anna gab es nur ein paar gemurmelte Abschiedsworte und einen verstohlen überreichten Umschlag, den Anna erst zurück in der Wärme des Vestibüls öffnete; er enthielt ein unanständig hohes Trinkgeld.
    Herr Ganz hatte sie von der Réception aus beobachtet. «Was für eine unglückselige Angelegenheit. Ich hoffe, man hat Sie für Ihre Mühen auch ausreichend entschädigt.»
    «Nicht nur für meine Mühen», meinte sie bitter.
    «Wir erfahren in unserem Beruf eben oft Dinge, die wir lieber nicht wissen möchten.» Er seufzte und begann, umständlich seine Brille zu putzen, immer ein Zeichen, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte. «Ich weiss, Henning hat Ihnen von den Hatvanys erzählt, und ich bin froh, dass Sie beide die Sache für sich behalten haben. Der Patron wollte es erst gar nicht glauben, aber heute kamen Weihnachtsgrüsse von Herrn Gubser, der das Royal in Menton führt, und er hat die traurige Geschichte bestätigt. Ich hoffe nur, wir können verhindern, dass die Sache unter dem Personal die Runde macht. Viele hier haben die Frau Professor in guter Erinnerung, das soll auch so bleiben. Und stellen Sie sich nur vor, was Hans dazu zu sagen hätte. Zum Glück befinden wir uns auf dem Weg in ein neues Zeitalter, in dem uns die Wissenschaft angesichts solcher Tragödien vielleicht die besseren Antworten als die traditionelle Theologie gibt.»
    «Und was für bessere Antworten wären das denn?»
    «Nun, das ist doch wohl offensichtlich. Wenn jemand Hand an sich legt, dann ist das ein Zeichen für einen degenerierten Geist, und natürlich muss man die zuvor begangenen Taten auch in diesem Licht sehen. Die arme Frau war krank, und im Nachhinein muss man wohl

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