Chiffren im Schnee
nichts auf. Wenn etwas Verdächtiges geschieht, werden wir abklären, ob einer der Herren dafür verantwortlich sein könnte. Ich habe allerdings das Gefühl, dass wir bei den Gästen eher fündig werden.»
«Genau», warf Lady Georgiana ein. «Und da mein Cousin etwas dagegen hat, dass ich das Gästebuch stehle, dachte ich, Sie könnten mir vielleicht einige Gäste nennen, die meiner besonderen Beachtung wert sind.»
«Ich bin mir nicht sicher, worauf ich achten soll», sagte Anna etwas ratlos. Bisher hatte sie geglaubt, stets zu wissen, was im Hotel vor sich ging und wer etwas zu verbergen hatte. Aber nun war sie sich da nicht mehr so sicher.
Der Lieutenant seufzte. «Es tut mir leid, natürlich kommt das der Suche nach der Nadel im Heuhaufen gleich. Die Art von Gast, die wir suchen, wird sich bemühen, möglichst nicht aufzufallen. Vertrauen Sie auf Ihr Gefühl – manchmal ist das der beste Ratgeber. Wenn Menschen sich verstellen, dann machen sie oft kleine Fehler, die fast unbemerkt bleiben – aber nur fast. Es gibt im menschlichen Geist eine Instanz, die solche Abweichungen registriert, doch spricht sie nicht klar und deutlich. Seien Sie achtsam, manchmal ist es nur ein unbehagliches Gefühl.»
«Du liebe Zeit, das ist aber sehr philosophisch», meinte Lady Georgiana. «Muss ich mich auch daran halten? Sollte meine Tischnachbarin also nach dem Fischmesser greifen, um ihren Salat zu attackieren, so ist sie bereits verdächtig?»
«Oh, zur Hölle damit!» Die Zeitung flog zu Boden. «Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als hier zu sitzen und nebulös klingende Anweisungen zu erteilen!»
Lady Georgiana blickte kurz zu Anna und wandte sich dann dem Lieutenant zu. Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. «Ich habe es nicht so gemeint, mein Lieber. Wir verstehen schon, worauf du hinauswillst.»
Anna machte sich daran, die Zeitung aufzusammeln.
«Miss Staufer kann mir bis zum Abend bestimmt ein paar Namen nennen», sagte Lady Georgiana, «und ich werde dann die Herrschaften etwas genauer unter die Lupe nehmen. Bis dahin denke ich, es wäre besser, auch einmal von etwas anderem zu sprechen.» Sie erhob sich und trat an das Schreibpult. «Wie kommst du denn mit deinen Übersetzungen voran? Lies mir doch ein paar Gedichte dieser Damen vor. Was für ein Leben diese Frauen im alten Nippon geführt haben müssen. Sind auch ein paar frivole Werke dabei? Du wirst die doch nicht unterschlagen wollen.»
«Bring mir bloss nichts durcheinander und reich mir die blaue Mappe», brummte er und streckte seine Hand aus. Lady Georgiana reichte ihm das Gewünschte und zwinkerte Anna dabei verstohlen zu, erfreut über das erfolgreiche Ablenkungsmanöver.
Anna hätte auch gerne eines oder zwei dieser geheimnisvollen Gedichte gehört, aber das ging natürlich nicht. Sie wollte sich diskret zurückziehen, da blickte der Lieutenant von seinen Gedichten hoch. Er zeigte auf die ordentlich gefaltete Zeitung, die Anna auf den Salontisch gelegt hatte. «Vielen Dank, Miss Staufer. Und verzeihen Sie die Mühe.»
Den ganzen Tag dachte Anna über die Liste jener Gäste nach, die vielleicht Lady Georgianas Aufmerksamkeit bedurften. Was war mit der Gräfin Tarnowska? Aber würde eine Agentin des Zaren nicht versuchen, weniger Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Die jungen Herren Offiziere konnten wohl kaum Agenten sein, oder vielleicht doch? Was war mit den Herren Schindler und Helm, österreichische Alpinisten, die jeden Tag zu ausgedehnten Touren aufbrachen? Und die schwedischen Ingenieure, die das Hotel nie verliessen, tagein, tagaus über Plänen brüteten und die hauptsächlich dafür verantwortlich waren, dass der Papierkorb im Lesesalon jeden Tag überquoll? Hatten sie überhaupt schon einmal das Trassee der Bahn nach Sternenbach vor Ort studiert?
In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie ein Mühlrad. Reichlich viele Gäste schienen einen jener Fehler begangen zu haben, von denen Lieutenant Wyndham gesprochen hatte. Sogar die beiden Mesdemoiselles Gérard, obwohl die kaum etwas Schlimmeres ausheckten, als die Heiratspläne der Frau Mama zu unterlaufen. Aber das Fraternisieren mit dem «Erbfeind» in der Bar war doch irgendwie verdächtig.
Mister Derringer, der Journalist, der lieber Schweizer Schnäpsen zusprach, als sich um seine Recherchen zu kümmern, war ihr auf einmal auch nicht mehr geheuer. Und warum trug Madame Gérard, die sonst eine sehr elegante Erscheinung war, immer noch riesige Hüte mit auffälligen Hutnadeln, wo
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