Chiffren im Schnee
doch andere Damen wie Lady Georgiana oder die Gräfin Tarnowska der Mode folgten und elegante Kappen oder Hüte mit schmaleren Krempen bevorzugten?
Die Sonne war bereits verschwunden, und das graue Winterzwielicht setzte ein, als Anna einen Kontrollgang machte, um zu sehen, ob die Stubenmädchen in den Salons das Licht angemacht hatten. Sie war im Billardraum, als Marie auf einmal vor ihr auftauchte.
«Bitte, Fräulein Staufer, es ist etwas mit Agnes», meinte sie heftig in Richtung Treppenhaus gestikulierend. «Sie will mir nicht sagen, was los ist, und hört gar nicht mehr auf zu flennen!»
«Wo ist sie denn?»
«Im Ost-Treppenhaus. Ich dachte, ich schicke sie auf die Kammer, bis sie sich beruhigt. Aber das will sie nicht, und jetzt hockt sie mitten auf der Treppe und ist nicht von der Stelle zu bewegen.»
Anna machte sich auf den Weg. «Was ist passiert?»
«Wenn ich das nur wüsste.» Marie lief atemlos neben ihr her. «Wir haben wie immer morgens die Salons gelüftet, aufgeräumt und abgestaubt. Und jetzt ist ihr auf einmal eingefallen, dass sie den Papierkorb im Lesesalon nicht geleert hat. ‹Also›, habe ich zu ihr gesagt, ‹dann mach schnell, bevor Fräulein Staufer es merkt. Die geht jetzt bald den Lampen nach.› Und da ist sie losgelaufen und dann nicht mehr gekommen. Ich bin sie suchen gegangen und hab sie im Untergeschoss gefunden, da war sie schon am Heulen, und ich kann kein vernünftiges Wort aus ihr herausbringen.»
Inzwischen waren sie im Treppenhaus angelangt, wo bereits andere Mädchen auf Agnes einredeten. Anna schickte sie alle zurück an ihre Arbeit.
Dies war die erste Saison für Agnes. Das Mädchen war sehr schüchtern und ausnehmend hübsch. Es gab gute Gründe, warum Anna sie als Stuben- und nicht als Zimmermädchen eingeteilt hatte. Doch sie aus den Gästezimmern zu halten, hatte anscheinend nicht gereicht.
Sie führte die schluchzende Agnes in den Personal-Speisesaal, hiess das Mädchen, sich hinzusetzen, und bat Frau Lanz um eine heisse Schokolade.
Die Kaffeeköchin blickte kurz in den Saal und meinte trocken: «Sind Sie sicher, dass ein Schnaps nicht mehr helfen würde, Fräulein Staufer?»
«Na ja, ein Schuss Cognac dürfte nicht schaden. Aber mehr nicht.»
Das dampfend heiss servierte Gebräu erfüllte schon bald seinen Zweck. Die Schluchzer wurden leiser. Agnes beruhigte sich schliesslich so weit, dass sie Annas Fragen beantworten konnte. Sie war mit dem Papierkorb in das Untergeschoss gegangen, wo in einem Lagerraum Abfälle gesammelt wurden, die man der Heizung des Splendid zuführen konnte. Auf dem Weg nach oben war sie am «Ski-Room» vorbeigekommen, der ebenerdig zwischen Untergeschoss und Hochparterre lag. Die sportbegeisterten Herrschaften konnten dort ihre Skier lagern. Ein separater Eingang sorgte dafür, dass niemand sich mit der Sportausrüstung durchs Vestibül quälen musste und dass nicht unnötig viel Schnee ins Haus getragen wurde.
«Und da kam auf einmal dieser Herr heraus, hat mich gepackt und in den Ski-Room gezogen, wo er mich küssen wollte.» Agnes begann wieder zu schluchzen. «Wir waren ganz alleine dort, und ich habe ihm gesagt, er soll mich doch bitte gehen lassen. Aber das wollte er nicht, und da habe ich mich gewehrt und bin davongelaufen. Und jetzt wird er sich sicher beschweren, und ich werde entlassen.»
«Was hast du denn gemacht, damit er dich loslässt?»
«Mein Bruder hat mir gesagt, dass ich das tun soll, wenn mir ein Gast frech kommt.» Sie wischte sich die Nase mit ihrem Ärmel ab. Anna unterliess es, sie deswegen zu tadeln, sondern wartete geduldig. Schliesslich sagte Agnes leise: «Sie wissen schon – mit dem Knie. Was wird jetzt nur mit mir passieren?»
Der robuste Rat eines besorgten Bruders, gar nicht so schlecht. Anna hätte es Agnes allerdings nicht zugetraut, den Rat auch zu befolgen. «Mach dir keine Sorgen», meinte sie. «Herren, denen das passiert, behalten das schön für sich.»
Das war nur die halbe Wahrheit, für manche dieser Herren erhöhte es den Reiz, wenn ein Mädchen sich zur Wehr setzte, ob aus Wut oder aus Lust, das wollte Anna gar nicht wissen. Doch sie mochte Agnes nicht noch mehr ängstigen. Es bedurfte auch so schon einiger Überredungskunst, bis Anna den Namen des unbeherrschten Herrn erfuhr.
«Es war einer der Offiziere – ich glaube, er heisst Ranke.»
Anna mochte ihren Ohren nicht trauen. Von allen Männern in dieser Gruppe war Oberleutnant Ranke der Letzte, dem sie so etwas zugetraut
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