Chiffren im Schnee
diese Tirade in einer Sprache, die weniger Gäste verstanden, wohl vorgezogen hätte.
Anna hörte ihn eine begütigende Antwort murmeln, die sie nicht verstehen konnte.
«Nein, es ist nicht gut genug, dass ein junger Bursche die Arbeit der Zimmermädchen überwacht», erwiderte Lady Georgiana in voller Lautstärke. «Was dabei herauskommt, kann man sich doch vorstellen. Die Mädchen kichern und kokettieren, und der Bursche vergisst darob glatt seine Pflichten. Und der Staub bleibt, wo er ist. Ich erwarte, dass die Gouvernante von nun an jeden Morgen die Zimmer meines Cousins inspiziert und sich selbst davon überzeugt, dass alles in einem Zustand ist, der eines Gentlemans würdig ist.» Nach dieser erstaunlichen Rede warf sie den Kopf in den Nacken, so als wollte sie Herrn Ganz herausfordern, ihr zu widersprechen.
Der Concierge wusste es besser, er entschuldigte sich wortreich und versicherte ihr, Fräulein Staufer würde noch diese Stunde ihren Pflichten nachkommen.
«Das will ich auch hoffen», meinte Lady Georgiana hochnäsig und rauschte unter den bewundernden Blicken aller Anwesenden die Treppe hoch.
Anna wartete ein wenig, bis sie an der Réception auftauchte, wo sie von Herrn Ganz die Weisung erhielt, von nun an täglich in der Kleinen Suite nach dem Rechten zu sehen. Was er von der Sache hielt, war ihm wie üblich nicht anzumerken. Er fügte lediglich mit steinerner Miene hinzu: «Ich werde den Herrn Direktor über Lady Georgianas Wünsche in Kenntnis setzen.»
Sie war erleichtert, dass er ihr diese heikle diplomatische Mission abnahm. Sie beide hatten die unerfreuliche Szene zwischen Anna und dem Direktor vom Vortag bisher nicht angesprochen, und so sollte es auch bleiben. Sie hielt deshalb ihre Dankesworte knapp und machte sich auf den Weg nach oben.
Jost kam gerade fröhlich strahlend aus der Kleinen Suite. «Guten Morgen, Fräulein Staufer. Haben Sie Lady Georgiana Darby schon kennengelernt? Das ist seine Cousine, eine sehr nette Dame. Sie ist gerade bei ihm. Vielleicht sorgt sie ja dafür, dass er ein bisschen besser auf sich aufpasst. Und sie hat mich für meine Arbeit gelobt.»
Wahrscheinlich hatte Lady Georgiana wegen der Dinge, die sie an der Réception verkündet hatte, ein schlechtes Gewissen. Anna hoffte, dass diese charmante Art der Wiedergutmachung Jost nicht zu Kopf steigen würde. Sie klopfte an und betrat die Suite.
Der Lieutenant sass mit einer Zeitung in der Hand im Lesesessel. Lady Georgiana, die eben die japanische Dichterin bewundert hatte, wandte sich sofort Anna zu: «Nun, Miss Staufer. Wie war ich?»
«Mylady waren sehr überzeugend.»
«Kein Wunder. Ich habe einfach an Tante Mildred in ihren besten Tagen gedacht. Das war sehr hilfreich.»
«Grundgütiger», war alles, was ihr Cousin dazu zu sagen hatte.
Lady Georgiana kicherte und setzte sich auf das Sofa.
Der Lieutenant wandte sich Anna zu. «Miss Staufer, wir haben uns überlegt, welche Schritte nun zu unternehmen sind. Ich halte es für das Beste, zuerst einmal die Lage zu klären und herauszufinden, wer alles noch an dieser absurden Jagd beteiligt ist. Also sollten wir die Gäste und das Personal genauer betrachten. Wie wir wissen, ist es nicht ganz einfach, hier jemanden ins Personal einzuschleusen. Warum, glauben Sie, ist es Giovanni trotz seiner wenig überzeugenden Fähigkeiten als Patissier gelungen, eine Anstellung zu finden?»
Darüber hatte Anna bereits nachgedacht und auch eine Antwort gefunden. «Ich vermute, weil er seine Zeugnisse nicht Herrn Ganz vorlegen musste. Herr Ganz ist sehr genau und hätte vielleicht ein paar Referenzen überprüft. Bei der Küchenmannschaft hält man das für übertrieben.»
Sie wusste, was er als Nächstes fragen wollte, und kam ihm zuvor. «Ich habe mich inzwischen ein wenig umgehört. Außer Giovanni gibt niemand zu grossen Klagen Anlass, aber das will natürlich nichts heissen. Worauf soll ich noch achten?»
«Auf Leute, die zum ersten Mal im Splendid arbeiten», meinte er nachdenklich. «Wenn Herr Ganz so gründlich ist, dürften zumindest die ihm unterstellten Männer wegfallen. Und ich nehme an, dasselbe gilt für die Ihnen unterstellten Zimmer- und Stubenmädchen. Zudem glaube ich nicht, dass Sie Ihre Landsleute zu verdächtigen brauchen; man kann zwar nie wissen, aber im Moment scheint mir das wenig wahrscheinlich.»
Anna ging in Gedanken das Personal durch. «Dann bleiben gar nicht mehr so viele übrig.»
«Gut, führen Sie im Kopf eine Liste – schreiben Sie
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