Chiffren im Schnee
Nacht und legte den Kamm zur Seite. Er würde ein schönes Hochzeitsgeschenk für eines der Mädchen abgeben.
Liebesreigen
«Spiritismus (nlt. von lat. spiritus = Hauch) nennt sich der Glaube an den Verkehr des lebenden Menschen mit der Geisterwelt der Verstorbenen, welcher sich seit 1848 von Amerika über England nach Europa verbreitet hat und viele Anhänger (fünf Millionen) zählt. Er will Philosophie, Weltreligion, ja Transscendentalphysik sein, ist aber nur Aberglaube.»
Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe – Leipzig 1907
Am nächsten Morgen erschien Henning nicht zum Frühstück, aber das war nichts Ungewöhnliches. Anna musste das unangenehme Gespräch wohl oder übel auf später verschieben. Immerhin würde er heute nicht ausser Haus sein. Einer der Portiers erzählte ihr, dass die Herren Offiziere die Bobbahn beglücken wollten; und Henning hasste den Bobsport von ganzem Herzen.
Auf dem Weg zu Lady Georgiana wurde Anna aufgehalten. Angeblich gab es einen unerquicklichen Zwischenfall mit Frau Kommerzialrat Göweil. Anna liess sich bei Lady Georgiana entschuldigen und eilte zum Zimmer der exzentrischen Dame. Bereits von Weitem hörte sie aufgeregte Stimmen.
Die Frau Kommerzialrat stand vor ihrem Zimmer in heftigem Streit mit ihren Hotelnachbarn, einem Paar auf Hochzeitsreise. Herr Gürtler, der wahrscheinlich jünger als Anna war, versuchte, seine Jugend mit Kleidung und altväterischem Gebaren zu verbergen. Er hatte sich einen Zwirbelbart zugelegt, der aber niemals in nasses Wetter geraten durfte. Und er trug stets Hemden mit altmodisch hohen Kragen, die sein rundes Gesicht höchst unvorteilhaft einrahmten. Der Effekt war zumeist eher komisch als ehrfurchtgebietend. Seine Braut war wohl die Einzige, bei der er mit seiner Strategie erfolgreich war, denn sie schien ihren Gatten wirklich zu vergöttern. Nun stand sie neben ihm und umklammerte in einer schutzsuchenden Geste seinen Arm. Da sie etwas grösser als ihr Mann war, sah es aber eher so aus, als wolle sie ihn wie ein ungezogenes Kind von Frau Göweil wegziehen.
Wie es aussah, bekam die junge Braut beim Gedanken, dass im Raum nebenan Séancen abgehalten wurden, das Grausen, was das junge Eheglück natürlich empfindlich störte.
Helen und Edith waren auch für diese Etage zuständig, sie standen neben den Herrschaften und lauschten gebannt. Als Helen die Gouvernante bemerkte, verschwendete sie keine Zeit. Sie eilte auf Anna zu und raunte: «Fräulein Staufer, endlich sind Sie da. Haben Sie das gehört? Ich will nicht in ein Zimmer, wo irgendwelches Hexenwerk stattgefunden hat. Das kann niemand von mir verlangen.»
Edith bekundete mit weit aufgerissenen Augen Zustimmung.
«Was für ein Unsinn», ereiferte sich Frau Göweil, die Ohren wie eine Fledermaus haben musste. «Die Kommunikation mit der anderen Seite lässt sich rational erklären. Führende Köpfe der Wissenschaft wie Herr und Frau Curie haben schon Séancen der grossen Eusapia Palladino beigewohnt. Es handelt sich um einen schlichten Energieaustausch, den Personen mit entsprechender Sensibilität unter den richtigen Bedingungen herbeiführen können.»
Anna konnte sehen, dass die Erklärung, wenn man es denn als eine solche betrachten wollte, weder die Gürtlers noch die Zimmermädchen besonders beruhigte.
Herr Gürtler knurrte: «Mit Verlaub, gnädige Frau, das sind verrückte Spinnereien. Die Toten geistern nicht auf irgendeiner Seite – sie sind dort, wo sie ihrer Lebensführung entsprechend hingehören, wie es uns die Kirche lehrt.»
«Das ist eine kleingeistige Sichtweise. Es gibt viele hervorragend dokumentierte Fälle von Kommunikation mit dem Jenseits. Sie wissen ja nicht, wie oft die Verstorbenen versuchen, uns zu erreichen. Nur weil wir uns weigern, einen offenen Geist zu haben, bleiben ihre Botschaften ungehört und werden als Spuk abgetan. Wir sind jeden Tag umgeben von solchen Phänomenen. Ich kann auch hier im Haus Präsenzen spüren.»
Edith quiekste leise, und die Frau Kommerzialrat tätschelte ihr beruhigend die Schulter. «Sie brauchen sich nicht zu fürchten, mein Kind. Die Geister wollen uns nichts Böses.» Sie wandte sich wieder zu Herrn Gürtler um. «Sie sind noch jung, mein Herr. Aber wenn Sie erst mal so viel wie ich vom Leben gesehen haben, werden Sie sich dem Übernatürlichen nicht mehr einfach so verweigern können.»
Bei der Erwähnung seiner mangelnden Lebenserfahrung holte Herr Gürtler tief Luft.
Anna musste diesem Unsinn schnell ein
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